Rz. 609

Hat der Betriebsrat einer ordentlichen Kündigung frist- und ordnungsgemäß widersprochen und hat der Arbeitnehmer innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung Kündigungsschutzklage gemäß § 4 KSchG erhoben, muss der Arbeitgeber nach § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG auf Verlangen des Arbeitnehmers diesen nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits bei unveränderten Arbeitsbedingungen weiter beschäftigen. Gemäß § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG kann das Arbeitsgericht den Arbeitgeber auf dessen Antrag hin durch einstweilige Verfügung von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung entbinden, wenn die Klage des Arbeitnehmers keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers führen würde oder der Widerspruch des Betriebsrats offensichtlich unbegründet war, vgl. § 102 Abs. 5 S. 2 Nr. 1–3 BetrVG.

a) Voraussetzungen des Weiterbeschäftigungsanspruchs

 

Rz. 610

Die Weiterbeschäftigungspflicht des Arbeitgebers tritt nur ein, wenn der Betriebsrat einer ordentlichen Kündigung[1341] aus den in § 102 Abs. 3 BetrVG abschließend aufgeführten Gründen widerspricht.[1342] Da der Betriebsrat frist- und ordnungsgemäß widersprochen haben muss, muss der Betriebsrat zunächst die Anhörungsfrist gemäß § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG einhalten. Ordnungsgemäß ist der Widerspruch nur, wenn der Betriebsrat seine auf § 102 Abs. 3 BetrVG gestützten Bedenken dem Arbeitgeber gemäß § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG unter Angabe der Gründe schriftlich mitgeteilt hat.[1343] Nicht erforderlich ist, dass die Voraussetzungen eines der Widerspruchsgründe des § 102 Abs. 3 BetrVG tatsächlich vorliegen. Fehlt es an diesen Voraussetzungen, kommt möglicherweise eine Entbindung gemäß § 102 Abs. 5 S. 2 Nr. 3 BetrVG in Betracht.

 

Rz. 611

Der Weiterbeschäftigungsanspruch ist des Weiteren nur ausgelöst, wenn der Arbeitnehmer rechtzeitig gemäß § 4 S. 1 KSchG Kündigungsschutzklage erhoben hat. Der Anspruch auf Weiterbeschäftigung entsteht, sobald der Arbeitnehmer den Feststellungsantrag stellt und Weiterbeschäftigung verlangt.[1344] Fraglich ist, ob der Arbeitnehmer binnen einer bestimmten Frist Weiterbeschäftigung verlangen muss. Das BAG hat diese Frage offen gelassen, jedoch entschieden, dass jedenfalls ein Verlangen einen Tag nach Ablauf der Kündigungsfrist noch rechtzeitig ist.[1345] Je später der Arbeitnehmer allerdings seine Weiterbeschäftigung gemäß § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG verlangt, umso schwieriger könnte es für ihn werden, im Falle der Ablehnung der Weiterbeschäftigung durch den Arbeitgeber mittels eines einstweiliges Verfügungsverfahrens seine Weiterbeschäftigung durchzusetzen. Während nämlich für den Entbindungsantrag des Arbeitgebers § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG das einstweilige Verfügungsverfahren als gesetzliches Verfahren anordnet und es infolgedessen nicht auf das Vorliegen eines Verfügungsgrunds ankommt,[1346] ordnet § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG keine besondere Verfahrensart an. Leitet der Arbeitnehmer ein einstweiliges Verfügungsverfahren ein, ist umstritten, ob er neben dem Verfügungsanspruch auch den Verfügungsgrund darlegen muss.[1347] An einem Verfügungsgrund fehlt es jedenfalls, wenn der Arbeitnehmer die Eilbedürftigkeit durch zu langes Zuwarten selbst verschuldet hat.[1348]

 

Rz. 612

 

Hinweis

Hat der Arbeitnehmer seine Weiterbeschäftigung gemäß § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG rechtzeitig verlangt, lehnt der Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung indes ab, ohne von der Weiterbeschäftigungspflicht entbunden worden zu sein, hat der Arbeitnehmer Annahmeverzugsansprüche auch dann, wenn der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess letztlich obsiegt.

[1341] Der Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 BetrVG endet mit Ausspruch einer weiteren außerordentlichen Kündigung des Arbeitgebers, vgl. LAG Schleswig-Holstein 20.3.2012 – 1 Sa 283 d/11, BeckRS 2012, 69239. Ebenso entfällt der Weiterbeschäftigungsanspruch im Falle der Annahme eines Änderungsangebots unter Vorbehalt, vgl. LAG Hessen 19.6.2012 – 15 SaGa 242/12, BeckRS 2012, 72686. Demgegenüber ist § 102 Abs. 5 BetrVG auch im Falle einer wegen ordentlicher Unkündbarkeit ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung unter Einhaltung einer sozialen Auslauffrist anzuwenden, vgl. dazu nur MüHdb/Volk, § 344 Rn 69.
[1342] Die Mitteilung bloßer Bedenken genügt nicht, vgl. dazu auch LAG Rheinland-Pfalz 26.2.2015 – 5 SaGa 7/14, BeckRS 2015, 67337.
[1343] Zu den Anforderungen an einen ordnungsgemäßen Widerspruch wegen anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten vgl. LAG Köln 28.8.2015 – 4 SaGa 14/15, BeckRS 2015, 72931; zum ordnungsgemäßen Widerspruch gegen eine verhaltensbedingte Kündigung vgl. LAG Hamburg 9.4.2014 – 6 SaGa 2/14, BeckRS 2014, 69708.
[1344] Zum Gegenstandswert vgl. LAG Hamburg 6.6.2012 – 4 Ta 12/12, BeckRS 2012, 70182.
[1345] BAG 11.5.2000 – 2 AZR 54/99, AP Nr. 13 zu § 102 BetrVG Weiterbeschäftigungsanspruch; vgl. dazu auch Richardi/Thüsing, § 102 BetrVG Rn 230. Vgl. hierzu auch ArbG Kiel 17.4.2018 – 1 Ga 5 c/18, Beck...

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