Rz. 39

Im Sozialhilferecht gilt konsequenterweise das Tatsächlichkeitsprinzip (Faktizitätsprinzip).[55] Nicht das "Soll", sondern das "Ist" bestimmt das Eintreten der Sozialhilfe. Entscheidend sind die tatsächlichen Verhältnisse des Hilfesuchenden.[56] Entscheidend kommt es darauf an, ob Einkommen und Vermögen wirksam zur Bedarfsdeckung eingesetzt werden können.[57]

Zitat

"Soweit ein wirtschaftliches Potential eines Hilfesuchenden zunächst lediglich auf dem Papier besteht, ohne dass er es für seinen Lebensunterhalt verfügbar machen kann, so beseitigt dies nicht die Hilfebedürftigkeit."[58]

 

Rz. 40

Deshalb dürfen Einkünfte oder Vermögen nicht fiktiv zugerechnet werden.[59] Dem Hilfesuchenden müssen "bereite" Mittel zur Verfügung stehen, ansonsten müssen zumindest Darlehen[60] gewährt werden (§§ 37, 38, 91 SGB XII[61]). Die Darlehensgewährungsvorschriften der Sozialhilfe werden als Konkretisierung des Faktizitätsgrundsatzes verstanden.[62] Deswegen ist die darlehensweise Gewährung für fortlaufende Bedarfe nur unter eng begrenzten Voraussetzungen zulässig.[63]

Auch für die Bewertung der Änderung der Verhältnisse gelten die in Wirklichkeit vorliegenden Verhältnisse.[64]

 

Rz. 41

Wegen des Faktizitätsprinzips kommt es grundsätzlich auch nicht darauf an, warum jemand Einkommen oder Vermögen hat oder zugewendet bekommt.[65] Eine Zweckbindung oder -bestimmung hat nur Bedeutung, wenn sie normativ als Anrechnungsausschluss geregelt ist. Entscheidend ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes, dem das Bundessozialgericht folgt, "die bedarfsbezogene Verwendungsmöglichkeit, nicht notwendig dagegen die Zweckbestimmung."[66]

Das BSG hat diese Grundaussage allerdings über die Definition des Einkommensbegriffes noch einmal weitergehend konturiert. Ein normatives Strukturprinzip "keine Leistungen für die Vergangenheit"/Bedarfsdeckungsgrundsatz“ kennt das SGB XII – wie auch das SGB II – danach nicht mehr.[67] Auf eine "faktische" Bedarfsdeckung, die die Hilfebedürftigkeit entfallen lässt, kommt es allein nicht an. Entscheidend ist nach der Rechtsprechung des BSG[68] zu den sog. Darlehensgewährungsfällen und der ihm folgenden untergerichtlichen Rechtsprechung[69] allein, ob im Bedarfszeitraum Mittel in bedarfsdeckender Höhe tatsächlich und zur endgültigen Verwendung zur Verfügung stehen. Nur dort, wo Einkommen oder Vermögen normativ ausdrücklich von der Anrechnung bzw. der Verwertungspflicht ausgenommen sind, verbleiben dem Sozialhilfebedürftigen Mittel über das Existenzminimum hinaus.[70]

[55] Berlit/Conradis/Pattar/Eichenhofer, Existenzsicherungsrecht, Teil I, Kapitel 1, Rn 14, 23.
[58] LSG Niedersachsen-Bremen v. 19.3.2014 – Az.: L 13 AS 3/13, juris.
[59] BSG v. 19.11.2012 – Az.: B 14 AS 33/12 R, BSGE 112, 229 Rn 13 ff.; Bieritz-Harder/Conradis/Thie/Geiger, LPK-SGB XII § 82 Rn 6 m.w.N.; Eicher/Luik/Lange, SGB II, § 12 Rn 28.
[60] Ggf. Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II.
[61] Bieritz-Harder/Conradis/Thie/Geiger, LPK-SGB XII, § 82 SGB XII Rn 9 diskutiert eine Darlehensgabe analog § 91 SGB XII für Sachwerte, die als geerbtes sozialhilferechtliches Einkommen nicht sofort verwertbar sind.
[62] Grube/Wahrendorf/Flint/Wrackmeyer-Schoene, SGB XII § 37 SGB XII Rn 4.
[63] BSG v. 29.11.2012 – Az.: B 14 AS 6/12 R, BSGE 112, 225 Rn 19; vgl. auch Eicher/Luik/Blüggel, SGB II, § 24 Rn 30 ff.
[65] BSG v. 18.2.2010 – Az.: B 14 AS 32/08 R, SozR 4–4200 § 9 Nr. 9 Rn 17, 20; Rothkegel, Sozialhilferecht, Teil II, Kapitel 3 Rn 19: "Die Herkunft der Selbsthilfemittel spielt grundsätzlich keine Rolle."
[67] Vgl. BSG v. 26.8.2008 – Az.: B 8 SO 26/07 R, SozR 4–1300 § 44 Nr. 15 Rn 19.
[69] Vgl. z.B. LSG Bayern v. 26.1.2011 – Az.: L 16 AS 390/10, juris; LSG Niedersachsen-Bremen v. 23.4.2012 – Az.: L 9 AS 757/11, openJur 2012, 70150; SG Karlsruhe v. 21.2.2013 – Az.: S 4 AS 4957/11, ZFSH/SGB 2013, 367–371.
[70] Schonvermögenstatbestände sind z.B. Tatbestände der gehobenen Fürsorge; zur historischen Entwicklung vgl. Föcking, Fürsorge im Wirtschaftsboom, 2007; Doering-Striening, VSSR 2009, 93 ff.

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