Rz. 56

Einen Unfallverletzten kann ein Mitverschulden nach § 9 StVG, § 254 BGB treffen, wenn er entweder den Sicherheitsgurt entgegen §§ 21a Abs. 1, 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO nicht angelegt oder entgegen § 21a StVO keinen Schutzhelm getragen hat. Nach OLG Brandenburg (VersR 2009, 1284) soll darüberhinausgehend die Annahme eines schmerzensgeldmindernden Mitverschuldens trotz fehlender gesetzlicher Verpflichtung sogar dann in Betracht kommen, wenn ein Motorradfahrer zwar einen Helm, jedoch keine Schutzkleidung getragen hat. Da jedoch keine gesetzliche Pflicht zum Tragen von Motorradschutzkleidung besteht und auch nach dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein zumindest für das Jahr 2012 ein solches für die Erforderlichkeit von Schutzkleidung nicht bestand, ergibt sich beim Fehlen entsprechender Motorradschutzkleidung kein Mitverschulden des beim Unfall verletzten Motorradfahrers (OLG München zfs 2017, 673). In der übrigen Rechtsprechung wird teilweise eine Pflicht zum Tragen von Motorradschutzkleidung abgelehnt (LG Frankfurt/Main zfs 2019, 81; LG Heidelberg VersR 2015, 907), zum Teil angenommen (OLG Brandenburg VersR 2009, 1284; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415; LG Köln DAR 2013, 382), zum Teil wird die Frage ausdrücklich offen gelassen (OLG Saarbrücken SP 2015, 296).

Allerdings kann unabhängig von der Frage des Mitverschuldens das Verschulden des Gegners derart im Vordergrund stehen, dass der Mitverursachungsanteil aufgrund eines nicht angelegten Sicherheitsgurtes vollständig zurücktritt (BGH DAR 1994, 191). Ein Eigenverschulden tritt auch dann hinter einem überragenden Verschulden des anderen Unfallbeteiligten zurück, wenn dieser mit erheblicher Alkoholisierung in die Gegenfahrbahn gerät und dort eine Frontalkollision verursacht (OLG Hamm NZV 1997, 401).

 

Rz. 57

Bei einer Alleinhaftung des Unfallgegners bleibt es ferner, wenn sich der Umstand, nicht angegurtet gewesen zu sein, überhaupt nicht schadenserhöhend ausgewirkt hat. Da über diese Frage immer häufiger gestritten wird und die Versicherer regelmäßig und ausschließlich eine Mithaftungsquote von pauschal ⅓ unterstellen, sollte mittels eines unfallrekonstruktiven Sachverständigengutachtens der Nachweis geführt werden, dass sich der Verletzungsumfang aufgrund der konkreten Unfallsituation nicht reduziert hätte, wenn der Verletzte angeschnallt gewesen wäre. In einem sehr großen Teil der Fälle (z.B. seitlicher Aufprall) hätte der Gurt keinerlei Schutzfunktion gehabt. Oftmals war es sogar von Vorteil, nicht angeschnallt gewesen zu sein (z.B. die Überschlagsfälle, bei denen der Insasse ohne Gurt frühzeitig herausgeschleudert worden wäre, bevor er sich verletzen konnte). Es kommt also sehr oft auf die individuellen Gegebenheiten des ganz konkreten Unfallereignisses an, die es zunächst zu analysieren gilt, bevor überhaupt – und schon gar nicht pauschal – über eine Mithaftungsquote gesprochen werden kann.

 

Rz. 58

 

Tipp

Ein solches unfallrekonstruktives Gutachten lässt sich oft über eine ggf. bestehende Rechtsschutzversicherung finanzieren, wenn gegen den Verletzten ein Bußgeld- oder Strafverfahren anhängig ist. In einem solchen Verfahren sind nämlich die Privatgutachterkosten eines öffentlich bestellten technischen Sachverständigen gem. § 2 Abs. 1 e ARB 75 bzw. § 5 Abs. 1 f aa ARB 94/2000/2008 versichert (vgl. § 13 Rdn 362).

Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass der Schädiger beim Mitverschulden gem. § 254 BGB auch für die Mitursächlichkeit die Beweislast trägt, sodass ein entsprechender Beweisantritt im Prozess lediglich gegenbeweislich und unter Protest gegen die Beweislast erfolgen sollte.

 

Rz. 59

Der Schädiger muss zur Begründung einer Mithaftung nachweisen, dass der Schaden bei angelegtem Sicherheitsgurt oder getragenem Schutzhelm nicht oder nicht in der gleichen Schwere eingetreten wäre. Gelingt dem Schädiger dieser Nachweis, bemisst sich die Mithaftung des Geschädigten regelmäßig auf 20 % bis maximal 40 %.

 

Rz. 60

Voraussetzung hierzu ist jedoch, dass überhaupt eine Gurtanlegepflicht bestand (§§ 21a Abs. 1, 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO).
Im Rahmen des § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO reicht es aus, dass eine Ausnahmegenehmigung bei entsprechendem Antrag hätte erteilt werden müssen (BGH NJW 1993, 53).
Auch bei Fahrten mit Schrittgeschwindigkeit kann auf die Pflicht zum Anlegen des Sicherheitsgurtes verzichtet werden (§ 21a Abs. 1 Nr. 3 StVO). Darüber hinaus sind Ausnahmefälle denkbar, in denen dem Verletzten das Nichtanlegen des Sicherheitsgurtes nicht als Verschulden gegen eigene Interessen vorgeworfen werden kann, z.B. bei hochschwangeren Frauen, Trägern von Herzschrittmachern oder bei Personen mit sonstigen Krankheiten, denen der Gurt infolge ihres Zustandes unerträglich wäre (BGH VersR 1981, 550 unter Hinweis auf BGHZ 74, 25).
 

Rz. 61

 

Beachte

Rein subjektive Beschwerden reichen nicht aus (BGH NJW 1993, 53). Hier muss im Einzelfall konkret und substanziiert vorgetragen und ggf. durch ärztliches Attest belegt werden, weshalb ein Ausnahmefall vorliegt.

 

Rz. 62

Der Schäd...

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