Rz. 68

Nach § 2317 Abs. 1 BGB entsteht der Pflichtteilsanspruch grundsätzlich mit dem Erbfall, also dem Tod des Erblassers. Ob dies auch dann gilt und daher ein "Erwerb ipso iure und ipso morte"[132] eintritt, wenn der Anspruch selbst oder zumindest seine Höhe davon abhängt, dass der Pflichtteilsberechtigte oder ein anderer das ihm Zugewandte ausschlägt, also in den Fällen der §§ 2306 Abs. 1, 2307, 1371 Abs. 3 BGB und in bestimmten Fällen des § 2309 BGB, ist umstritten.[133] Dafür spricht bereits der Wortlaut des § 2332 Abs. 2 BGB. Denn dort heißt es, dass die Verjährung nicht dadurch gehemmt wird, dass die Pflichtteilsansprüche erst nach der Ausschlagung der Erbschaft oder eines Vermächtnisses geltend gemacht werden können. Dieser Regelung hätte es gar nicht bedurft, wenn vor der entsprechenden Ausschlagung der Pflichtteilsanspruch noch gar nicht entstanden wäre. Vielmehr ist die nicht durchgeführte Ausschlagung nur als Einwendung gegen den mit dem Erbfall entstandenen Pflichtteilsanspruch anzusehen.[134] Nach der Gegenansicht entsteht der Anspruch im Fall des §§ 2306, 2307 BGB erst mit der Ausschlagung, ist dann aber rückwirkend (§ 1953 Abs. 1 BGB) so zu behandeln, als ob er bereits mit dem Erbfall entstanden sei.[135] Dafür lässt sich zwar der Wortlaut dieser Normen anführen, jedoch ist dies nicht zwingend. Die praktische Bedeutung dieser Streitfrage ist auch für die Anhänger der Auffassung von der erbfallbedingten Entstehung des Pflichtteilsanspruchs gering, wenn man die erforderliche Ausschlagung als Einwendungstatbestand ansieht.[136] Eine Verjährungshemmung nach § 204 BGB kann der pflichtteilsberechtigte Erbe jedenfalls vor Abgabe der Ausschlagungserklärung durch entsprechende Klageerhebung nach beiden Auffassungen herbeiführen.[137] Praktische Bedeutung erhält der Theorienstreit jedoch in folgendem Fall:

 

Beispiel

Der pflichtteilsberechtigte Nacherbe stirbt in dem Zeitraum zwischen dem Vor- und Nacherbfall. Sein Anwartschaftsrecht ist entgegen der Auslegungsregel des § 2108 Abs. 2 BGB nicht vererblich. Der Nacherbe hat das ihm zustehende Recht zur Ausschlagung der Nacherbschaft zur Erlangung des Pflichtteils (§ 2306 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 BGB) noch nicht ausgeübt. Kann der Erbe des Nacherben noch den Pflichtteil des Nacherben verlangen? Bedarf es hierfür einer Ausschlagung?[138]

Nach der hier vertretenen Auffassung, dass der Pflichtteilsanspruch "ipso iure und ipso morte" entsteht, ergibt sich Folgendes: Bereits mit Eintritt des ersten Erbfalls hatte der pflichtteilsberechtigte Nacherbe einen Pflichtteilsanspruch, dem allerdings zunächst die Einwendung aus § 2306 BGB entgegenstand, dass der Pflichtteilsanspruch erst mit der Ausschlagung der Nacherbschaft verlangt werden kann. Weiter besaß der Pflichtteilsberechtigte ein nicht vererbliches Nacherbenanwartschaftsrecht und schließlich diesbezüglich ein Ausschlagungsrecht. Mit dem Tode des Nacherben vor Eintritt des Nacherbfalls ging dieses Anwartschaftsrecht unter. Dies bewirkte zugleich, dass auch das Ausschlagungsrecht erlosch, weil das Ausschlagungsobjekt erloschen ist. Damit entfällt durch den Tod des Nacherben die sich aus § 2306 BGB für den Pflichtteilsschuldner ergebende Einwendung und der Erbe des pflichtteilsberechtigten Nacherben besitzt einen Pflichtteilsanspruch, ohne eine Ausschlagungserklärung abgeben zu müssen.[139]

 

Rz. 69

Bei Vorliegen eines Berliner Testaments (§ 2269 BGB) ist zu beachten, dass zwei Erbfälle vorliegen und damit zwei Mal Pflichtteilsansprüche entstehen.[140]

 

Rz. 70

Der Pflichtteilsanspruch entsteht nicht:[141]

bei einem Erbverzicht, es sei denn, der Pflichtteil wurde ausdrücklich vorbehalten;
bei einem Pflichtteilsverzicht (§ 2346 Abs. 2 BGB);
bei wirksamer Pflichtteilsentziehung (§ 2333 BGB);
bei einem vor dem 1.4.1998 wirksam gewordenen vorzeitigen Erbausgleich (vgl. Art. 227 Abs. 1 Nr. 2 EGBGB, § 1934e BGB).
 

Rz. 71

Der Pflichtteilsanspruch entfällt rückwirkend bei erfolgreicher Geltendmachung der Erbunwürdigkeit oder Pflichtteilsunwürdigkeit (§§ 2339 ff. BGB).

[132] Begriff von Muscheler, Erbrecht, 2010, Bd. I, Rn 1060, 1062.
[133] Bejahend: RG JW 1931, 1354, 1356; Staudinger/Otte, § 2317 Rn 10; jurisPK-BGB/Birkenheier, § 2317 Rn 4; NK-BGB/Bock, § 2317 Rn 3; PWW/Deppenkemper, § 2317 Rn 2; BGB-RGRK/Johannsen, § 2317 Rn 4; Bengel, ZEV 2000, 388, 389; Muscheler, Erbrecht, 2010, Bd. I, Rn 1062; v. Lübtow, Probleme des Erbrechts, 1967, S. 33 ff.; ders., Erbrecht, I 580. Offenlassend: BGH FamRZ 1965, 604, 606; Staudinger/Haas (Neubearb. 2006), § 2317 Rn 5.
[134] So ausdrücklich v. Lübtow, Probleme des Erbrechts, 1967, S. 33 ff.; Bengel, ZEV 2000, 388, 389.
[135] OLG Schleswig FamRZ 2003, 1696; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 37 VIII 2 a; MüKo-BGB/Lange, § 2317 Rn 2; Soergel/Dieckmann, § 2317 Rn 3; Staudinger/Ferid/Cieslar, 12. Aufl., § 2317 Rn 6; Herzfelder, JW 1931, 1354 f.
[136] Soergel/Dieckmann, § 2317 Rn 3; MüKo-BGB/Lange, § 2317 Rn 2 spricht sogar davon, dass keine praktische Auswirkung bestehe.

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