Rz. 17

Arbeitnehmern kommt im Rahmen des Massenentlassungssystems eine Doppelrolle zu: Zum einen vermitteln sie durch ihre Berücksichtigung bei Betriebsgröße und Anzahl der Entlassungen den Massenentlassungsschutz für die betroffenen Arbeitnehmer, zum anderen profitieren sie als zu entlassende Arbeitnehmer von diesem Schutz. Dabei ist der Begriff des Arbeitnehmers zwar stets einheitlich zu verwenden; nicht jeder den Schutz vermittelnde Arbeitnehmer profitiert allerdings auch selbst davon.

1. Unionsrechtlicher Arbeitnehmerbegriff

 

Rz. 18

Dem Arbeitnehmerbegriff des § 17 Abs. 1 KSchG liegt der Arbeitnehmerbegriff in Art. 1 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie zugrunde, er ist mithin unionsrechtskonform auszulegen. Der Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie kann nach der Rechtsprechung des EuGH nicht durch Verweisung auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten definiert werden, sondern muss innerhalb der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich ausgelegt werden.[35] Arbeitnehmer in diesem Sinne ist "eine Person, die während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält."[36] Ob das der Erbringung der Arbeitsleistung zugrunde liegende Rechtsverhältnis nach nationalem Recht als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist, ist insoweit unerheblich. Arbeitnehmer in diesem Sinne sind deshalb neben Arbeitnehmern i.S.v. § 611a BGB auch Beamte[37] und Richter.[38] Arbeitnehmer sind auch "Personen, die einen Vorbereitungsdienst ableisten oder in einem Beruf Ausbildungszeiten absolvieren, die als eine mit der eigentlichen Ausübung des betreffenden Berufs verbundene praktische Vorbereitung betrachtet werden können, wenn diese Zeiten unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis für einen Arbeitgeber nach dessen Weisung absolviert werden."[39] Erfasst werden mithin auch Auszubildende, Praktikanten und Umschüler, wobei der EuGH genügen lässt, dass die hierfür entrichtete Vergütung in Form eines Zuschusses der Arbeitsverwaltung geleistet wird.[40] Auf die Dauer des Arbeitsverhältnisses kommt es dabei nicht an, so dass (jedenfalls bei der Bemessung der Betriebsgröße) auch befristet Beschäftigte zu berücksichtigen sind, auch wenn sie bei der Anzahl der Entlassungen nicht mitzählen.[41] Teilzeitbeschäftigte werden unabhängig von dem Umfang ihrer Arbeitszeit als "volle" Arbeitnehmer gezählt.[42]

[35] EuGH v. 9.7.2015 – C-229/14, Balkaya; EuGH v. 13.2.2014 – C-596/12; EuArbR/Spelge, Art. 1 RL 98/59/EG Rn 45; a.A. Hohenstatt/Naber, NZA 2014, 637, 639; ErfK/Preis, § 611a BGB Rn 20.
[36] EuGH v. 20.9.2007 – C-116/06, Kiiski, AP Nr. 8 zu EWG-Richtlinie Nr. 92/85; EuGH v. 26.4.2007 – C-392/05, Alevizos, Slg 2007, I-3505; EuGH v. 7.9.2004 – C-456/02, Trojani, AP Nr. 16 zu Art 39 EG; EuGH v. 23.3.2004 – C-138/02, Collins, AP Nr. 14 zu Art 39 EG; EuGH v. 13.4.2000 – C-176/96, Lehtonen und Castors Braine, AP Nr. 1 zu Art 39 EG; EuGH v. 3.7.1986 – 66/85, Lawrie-Blum.
[37] EuGH v. 14.9.2016 – C-184/15, Martinez Andrés und Castrejana López.
[42] APS/Moll, § 17 KSchG Rn 18; Fuhlrott/Fabritius, ArbR 2009, 154; Niklas/Koehler, NZA 2010, 913.

2. Geschäftsführer und leitende Angestellte

 

Rz. 19

Die Anwendung des unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs in § 17 Abs. 1 KSchG führt zu Friktionen mit § 17 Abs. 5 KSchG. Demnach sollen die Vertretungsorgane von juristischen Personen und Personengesellschaften ebenso wie leitende Angestellte nicht als Arbeitnehmer i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG gelten. Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des EuGH sind allerdings nicht nur leitende Angestellte,[43] sondern auch Mitglieder des Leitungsorgans Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn; letztere jedenfalls dann, wenn sie ihre Tätigkeit nach der Weisung oder unter der Aufsicht eines anderen ­Organs dieser Gesellschaft ausüben und jederzeit ohne Einschränkung von ihrem Amt abberufen werden können.[44] Es kommt dabei nicht darauf an, dass die Arbeitsleistung – wie es § 611a BGB vorsieht – in persönlicher Abhängigkeit erbracht wird. Es genügt ein Unterordnungsverhältnis unter den Vorgaben des Aufsichtsgremiums, das auch gegeben ist, wenn das Leitungsorgan einen Ermessensspielraum besitzt, der über denjenigen eines Arbeitnehmers nach nationalem Recht hinausgeht.[45] Auch eine gesellschaftsrechtliche Beteiligung an dem Unternehmen ändert nichts an der unionsrechtlichen Statusbeurteilung, wenn damit kein bestimmender Einfluss auf das Aufsichtsorgan ausgeübt werden kann.[46] GmbH-Geschäftsführer, die jederzeit aus dem Amt abberufen werden können und nicht über eine Mehrheitsbeteiligung an der Gesellschaft oder eine Sperrminorität verfügen, sind deshalb Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinn, nicht aber bestimmende Gesellschafter-Geschäftsführer.[47]

 

Rz. 20

Die Frage, ob der Arbeitnehmerbegriff des § 17 Abs. 1 KSchG dementsprechend unionsrechtskonform ausgelegt werden kan...

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