Rz. 113

Die Massenentlassungsanzeige setzt das Verwaltungsverfahren der Agentur für Arbeit in Gang. Die Arbeitsagentur hat den Sachverhalt nach § 20 SGB X von Amts wegen zu ermitteln und zu prüfen, ob die formellen Voraussetzungen der Anzeige erfüllt sind. Ergeben sich Zweifel oder bestehen erkennbare Unvollständigkeiten, muss die Arbeitsagentur bei dem Arbeitgeber nachfragen.[233] Sodann entscheidet die Arbeitsagentur gemäß §§ 18, 20 KSchG über eine Verkürzung oder Verlängerung der Entlassungssperre, auf Antrag gemäß § 19 KSchG auch über die Einführung von Kurzarbeit während der Entlassungssperre.

a) Reichweite der Massenentlassungsanzeige

 

Rz. 114

Die wirksam erstattete Massenentlassungsanzeige deckt im Hinblick auf die Anforderungen des § 17 KSchG die Entlassungen der in der Anzeige genannten Arbeitnehmer. Die Entlassung einer geringeren Anzahl als der angezeigten Arbeitnehmer ist unschädlich. Weitergehende Entlassungen auch in nur geringfügigem Umfang sind von der Anzeige demgegenüber nicht gedeckt, so dass für diese keine wirksame Anzeige vorliegt.[234] Auf eine zu niedrige Angabe der Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer können sich zwar nur diejenigen Arbeitnehmer berufen, die von der Anzeige nicht erfasst sind;[235] welche Auswirkungen sich allerdings ergeben, wenn die betroffenen Arbeitnehmer nicht individualisierbar sind, ist bislang noch ungeklärt.

 

Rz. 115

 

Beispiel

Der Arbeitgeber zeigt die Entlassung von 10 von regelmäßig 20 beschäftigten kaufmännischen Sachbearbeitern an. Weder die Muss-, noch die Soll-Angaben lassen einen hinreichend sicheren Rückschluss auf die konkret betroffenen Arbeitnehmer zu. Spricht der Arbeitgeber nun gegenüber 12 Sachbearbeitern eine Kündigung aus, ist ­unklar, welche Kündigungen von der Massenentlassungsanzeige getragen sind und welche nicht. Im Zweifel sind damit alle 12 Kündigungen unwirksam.

 

Rz. 116

Die Massenentlassungsanzeige verliert ihre Wirkung nicht dadurch, dass über das Vermögen des Arbeitgebers zwischenzeitlich Insolvenz eröffnet wird. Sie wirkt vielmehr nach Insolvenzeröffnung weiter und kann auch den Entlassungen durch den Insolvenzverwalter zugrunde gelegt werden.[236]

 

Rz. 117

 

Hinweis

Die Massenentlassungsanzeige zeigt Wirkung auch im nachfolgenden Kündigungsschutzprozess, indem sie Indizwirkung für eine ernsthafte und endgültige Absicht, den Betrieb stillzulegen, entfalten kann.[237]

b) Einhaltung der Sperrfrist

 

Rz. 118

Gemäß § 18 Abs. 1 KSchG werden anzeigepflichtige Entlassungen erst nach Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige bei der Agentur für Arbeit wirksam. Vor diesem Zeitpunkt wird die Entlassung nur wirksam, wenn die Arbeitsagentur hierzu ihre Zustimmung erteilt. Umgekehrt kann die Agentur für Arbeit gemäß § 18 Abs. 2 KSchG im Einzelfall bestimmen, dass die Entlassungen nicht vor Ablauf von längstens zwei Monaten nach Eingang der Anzeige wirksam werden.

 

Rz. 119

Auch hier ist der Begriff der Entlassung unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass darunter der Ausspruch der Kündigung zu verstehen ist. Eine Kündigung kann deshalb zwar schon unmittelbar nach Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit ausgesprochen werden. Bis zum Ablauf der gesetzlichen Frist kann eine vom Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung allerdings keine Wirkung entfalten. Die betroffenen Arbeitnehmer dürfen deshalb nicht vor Ablauf der Fristen des § 18 Abs. 1 oder Abs. 2 KSchG aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden.[238] Von dieser "Sperrfrist" werden aber im Ergebnis nur diejenigen Kündigungen erfasst, deren Kündigungsfrist kürzer ist als die Sperrfrist.[239] Die anzeigepflichtige Kündigung beendet in diesem Fall das Arbeitsverhältnis nicht zu dem in der Kündigungserklärung genannten Zeitpunkt, sondern erst mit Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige, wenn nicht die Zustimmung der Agentur für Arbeit zu einer früheren Beendigung erteilt wird.[240]

[239] KR/Weigand, § 18 KSchG Rn 5; Lembke/Oberwinter, NJW 2007, 721; Bauer/Krieger/Powietzka, DB 2005, 445; Dornbusch/Wolff, BB 2007, 2297; Reinhard, RdA 2007, 207.

c) Kündigung nach Ablauf der Freifrist

 

Rz. 120

Sofern die Entlassungen nicht innerhalb von 90 Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem sie gemäß § 18 Abs. 1 und 2 KSchG zulässig wären, durchgeführt werden, bedarf es gemäß § 18 Abs. 4 KSchG einer erneuten Anzeige, wenn die Entlassung zu diesem Zeitpunkt (wieder) in einem Massenentlassungskontext steht.

 

Rz. 121

Das BAG hat bislang offengelassen, ob der Begriff der "Entlassung" auch in § 18 Abs. 4 KSchG unionsrechtskonform dahin auszulegen ist, dass darunter die Kündigungserklärung zu verstehen ist.[241] Im Hinblick auf den Wortlaut der Regelung, der auf die "Durchführung" der Entlassung abstellt, mithin auf ein aktives Handeln, legt das BAG die Regelung allerdings dahingehend aus, dass der Arbeitgeber ver...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge