A. Einführung

 

Rz. 1

Nach groben Schätzungen bestanden im Jahr 2022 in Deutschland mehr als 86 Mio. Lebensversicherungsverträge.[1] Lebensversicherungen dienen wirtschaftlich in erster Linie der Absicherung von nahen Angehörigen, im Falle der Kapitallebensversicherung auch als Altersvorsorge. Je nach Vermögensstruktur trägt die Lebensversicherungssumme zur Vermeidung von Liquiditätsengpässen im Erbfall bei; auch aus erbschaftsteuerlichen Gründen kann sich der Abschluss einer Lebensversicherung empfehlen.

Die Lebensversicherung ist rechtlich gesehen ein Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall gem. §§ 328 ff. BGB, so dass die vertragsgegenständlichen Leistungen in aller Regel nicht in den Nachlass fallen. Dem Begünstigten steht unabhängig von jeder letztwilligen Verfügung ein direkter Leistungsanspruch gegen den Versicherer zu.

Neben Schwierigkeiten bei der Geltendmachung des Leistungsanspruchs treten in der Praxis oft Probleme bei der Rückabwicklung auf. In diesem Kapitel werden zudem die Auswirkungen einer Lebensversicherung auf den Pflichtteil und auf den Fall der Rückforderung einer beeinträchtigenden Schenkung gem. § 2287 BGB behandelt.

Es gehört zum Alltag des mit dem Erbrecht befassten Anwalts, Rechtsfragen rund um die Lebensversicherung zu klären. Zwar gibt es bei den meisten fälligen Versicherungsverträgen keine Abwicklungsprobleme, dennoch sollte in jedem Mandantengespräch das Thema angesprochen und eine Beratung angeboten werden. Für Laien scheinbar klare und unanfechtbare Rechtsverhältnisse bergen oft rechtliche und tatsächliche Probleme, die wirtschaftlich erhebliche Auswirkungen haben, wie z.B. die unterlassene Rückforderung wegen eines fehlerhaften Valutaverhältnisses.

[1] Quelle: Statistiken zur Versicherungswirtschaft, 2022, S.13 Internet: https://www.gdv.de/gdv/statistiken-zur-deutschen-versicherungswirtschaft-2022-statistisches-taschenbuch--97258

B. Anspruch des Bezugsberechtigten gegen die Lebensversicherung

I. Typischer Sachverhalt

 

Rz. 2

E verstirbt bei einem Verkehrsunfall. In seinem Lebensversicherungsvertrag mit einer Versicherungssumme von 50.000 EUR hatte er seine Lebensgefährtin L als Bezugsberechtigte eingesetzt. Der Sohn S des E hat seinen Vater allein beerbt und ist im Besitz des Versicherungsscheins. S ist der Ansicht, dass ihm die Versicherungssumme zusteht.

II. Rechtliche Grundlagen

1. Grundsätzliches

 

Rz. 3

Bei der Lebensversicherung handelt es sich um eine Unterform der Personenversicherung, die es grundsätzlich in drei Erscheinungsformen gibt:

Die Risikolebensversicherung ist eine reine Todesfallversicherung, bei der die Leistung nur fällig wird, wenn die versicherte Person innerhalb des versicherten Zeitraums verstirbt.
Die Kapitallebensversicherung als weit verbreitete Sonderform der Erlebensversicherung wird fällig, wenn die versicherte Person verstirbt oder sie einen bestimmten Stichtag erlebt.
Eine neuerdings als Altersvorsorge an Bedeutung zunehmende Form der Lebensversicherung ist die sog. Rentenversicherung, die allerdings mit Ausnahme einer eingeschränkten Beitragsrückgewähr keinen Todesfallschutz bietet.
 

Rz. 4

Das Recht der Lebensversicherung ist in den §§ 150 ff. VVG und in den Allgemeinen Bedingungen für die kapitalbildende Lebensversicherung (ALB 2021) geregelt.[2] Die ALB sind in der Lebensversicherungsbranche größtenteils identisch. In diesem Rahmen werden die Musterbedingungen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) zugrunde gelegt, die sich an die zuvor verbreiteten Allgemeinen Lebensversicherungsbedingungen (ALB 94) anschließen.

Der Berater sollte bei der Prüfung von Ansprüchen im Zweifel immer die für den Lebensversicherungsvertrag jeweils gültigen, also bei Abschluss der Versicherung bestehenden Versicherungsbedingungen heranziehen und diese notfalls bei der Versicherung anfordern bzw. im Internet abrufen.

 

Rz. 5

Neben dem Versicherer sind immer drei weitere Beteiligte eines Lebensversicherungsvertrags zu unterscheiden:

der Versicherungsnehmer, der Vertragspartner und Prämienzahler ist,
die versicherte Person, deren Tod zur Fälligkeit der Leistung führt, und
der Bezugsberechtigte, der die Leistung verlangen kann.

Meist sind Versicherungsnehmer und versicherte Person identisch, es kann aber auch völlige Identität oder Verschiedenheit sämtlicher Beteiligter vorliegen.

Dem Laien sind diese Unterschiede nicht ohne weiteres geläufig. Vor jeder Beratung oder dem ersten Schreiben an die Versicherung hat der Rechtsanwalt anhand vorzulegender Unterlagen die Versicherungsverhältnisse zu klären. Hierbei ist zu beachten, dass der Vertragsinhalt einer Lebensversicherung ohne großen Aufwand durch einseitige Erklärung des Versicherungsnehmers geändert werden kann. Neben einer Änderung der Versicherungssumme und einer Vertragsverkürzung steht es dem Versicherungsnehmer insbesondere frei, die Bezugsberechtigung zu ändern. Man darf sich daher nicht allein auf die Informationen verlassen, die dem ursprünglichen Versicherungsantrag und dem Versicherungsschein zu entnehmen sind.

 

Rz. 6

 

Hinweis

Falls ein Mandant im Rahmen der vorsorgenden Beratung nicht mehr eindeutig dokumentiert hat, welc...

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