Rz. 337

Der unmittelbare Gesundheitsschaden eines Dritten kann durch Verletzung einer anderen Person vermittelt werden (z.B. Infektion in der Schwangerschaft).[290] Dem infolge einer Verletzung seiner Mutter mit einem Gesundheitsschaden zur Welt gekommenen Kind (Nasciturus) stehen eigene Ersatzansprüche zu.[291] Trifft die Schwangere an dieser Situation eine Mitverantwortung, sind die Ansprüche des überlebend geborenen Nasciturus in der gleichen Weise beschränkt wie die Ansprüche seine Mutter.[292] Der Nasciturus ist vor der Geburt keine "dritte Person" i.S.d. der Schadenersatzvorschriften, sondern identisch mit seiner Mutter. Gegenüber einem Arzt oder einer anderen, von außen kommenden, schädigenden Person bilden Mutter und (später geschädigt, aber lebend zur Welt gekommenes) Kind eine Einheit und sind gemeinsam "Dritte" i.S.d. Schadenersatzvorschriften.[293]

 

Rz. 338

Eine Haftungseinheit (dazu näher Rdn 340 ff.) kommt anspruchsmindernd nur in Betracht, wenn Handlungen zweier (prinzipiell handlungsfähiger)[294] Personen zu einer Einheit verschmelzen; sie kommt bei Kindern aber nur dann in Betracht, wenn diese bereits deliktsfähig sind. Der Fötus ist aber noch keine "Person", sondern bis zur Geburt Teil einer Person (Mutter). Die Ausgestaltung mit passiven Rechten[295] im Einzelfall dient dabei der materiellen Sicherung für spezielle rechtliche Sondersituationen. Folgt man (zu recht) dem OLG Koblenz,[296] das vor der Geburt Mutter und Leibesfrucht als Einheit im haftungsrechtlichen Sinne (nicht: Haftungseinheit) sieht, führt die Mitverantwortung der Mutter zum Schadengrund und/oder zur Schadenhöhe zu einer unmittelbaren Anspruchskürzung auch der Direktansprüche des überlebenden, aber geschädigt Geborenen, selbst wenn man den Unterhaltsmehraufwand als – dann dort zu kürzende – Anspruchsmöglichkeit der Eltern darstellt.[297]

 

Rz. 339

Als Schädigungshandlung der Mutter kommen neben einem mitverschuldeten Unfall auch Nikotingenuss,[298] Rauschmittelmissbrauch, Alkoholabusus, fehlgeschlagener Suizid oder fehlgegangener Abtreibungsversuch in Betracht. Handlungen und vorwerfbare Unterlassungen Dritter (wie Unfallgegner, Arzt) können parallel zum Schadenseintritt beim Kind beitragen. Im Anschluss an ein Unfallgeschehen können auch unterlassene Untersuchungen Mitverantwortlichkeiten begründen.

[290] Jahnke/Thinesse-Wiehofsky, Unfälle mit Kindern und Arzthaftung bei Geburtsschäden, 1. Aufl. 2013, § 2 Rn 398 ff. m.w.H.
[291] Jahnke/Thinesse-Wiehofsky, Unfälle mit Kindern und Arzthaftung bei Geburtsschäden, 1. Aufl. 2013, § 2 Rn 386 ff. m.w.H.
[292] Jahnke/Thinesse-Wiehofsky, Unfälle mit Kindern und Arzthaftung bei Geburtsschäden, 1. Aufl. 2013, § 2 Rn 402 ff. m.w.H.
[293] Jahnke, Der Verdienstausfall im Schadenersatzrecht, 4. Aufl. 2015, § 3 Rn 81.
[294] Handlungsfähigkeit setzt keine Rechtsfähigkeit voraus.
[295] Der Nasciturus kann Erbe (§ 1923 Abs. 2 BGB, siehe zur Auseinandersetzung § 2043 BGB), Nacherbe (§ 2108 BGB) oder Vermächtnisnehmer (§ 2178 BGB) sein. Unterhaltsansprüche im Falle der Tötung eines Unterhaltsverpflichteten bestimmen § 844 Abs. 2 S. 2 BGB, § 10 Abs. 2 S. 2 StVG, § 35 Abs. 2 S. 2 LuftVG, § 5 Abs. 2 S. 2 HaftPflG, § 28 Abs. 2 S. 2 AtomG). Nach § 247 FamFG kann zur Sicherung eines künftigen Unterhaltsanspruchs schon vor der Geburt eine einstweilige Verfügung erwirkt werden. Zu Gunsten des Nasciturus kann ein Vertrag geschlossen (§ 331 Abs. 2 BGB) und zur Wahrung seiner Rechte ein Pfleger bestellt werden (§ 1912 Abs. 1 BGB); im Übrigen steht die Fürsorge den Eltern zu (§ 1912 Abs. 2 BGB). Den Schutz des ungeborenen Lebens bei Verletzung seiner Mutter im Rahmen eines Arbeits-/Dienstverhältnisses oder einer gesetzlich unfallversicherten Tätigkeit gewährleisten § 12 SGB VII, § 30 Abs. 1 S. 2 BeamtVG.
[296] OLG Koblenz v. 28.1.1988 – 5 U 1261/85 – ArztR 1989, 61 = NJW 1988, 2959 = VersR 1989, 196. In diesem Sinne auch OLG Oldenburg v. 14.5.1991 – 5 U 22/91 – ArztR 1992, 11 = MDR 1991, 1140 = NJW 1991, 2355 = NJW-RR 1991, 1377 (nur Ls.).
[297] Siehe ergänzend BGH v. 17.12.1996 – VI ZR 133/95 – MDR 1997, 353 = MedR 1997, 319 = NJW 1997, 1635 = VersR 1997, 449.
[298] Dazu OLG Oldenburg v. 14.5.1991 – 5 U 22/91 – ArztR 1992, 11 = MDR 1991, 1140 = NJW 1991, 2355 = NJW-RR 1991, 1377 (nur Ls.).

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