Rz. 114

Wenn ein schädigendes Verhalten nicht durch Notwehr gerechtfertigt ist, ist zu prüfen, ob Putativnotwehr vorlag, der Handelnde also irrig von den tatsächlichen Voraussetzungen einer Notwehrsituation ausgegangen ist (§ 16 StGB), ob ein Verbotsirrtum vorlag (§ 17 StGB) oder ob ein Verschulden wegen eines Notwehrexzesses (§ 33 StGB) ausgeschlossen ist.

 

Rz. 115

Der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes führt als Erlaubnistatbestandsirrtum entsprechend § 16 Abs. 1 S. 1 StGB zum Ausschluss der Vorsatzschuld.[226] Eine solche Situation kann etwa vorliegen, wenn ein Sondereinsatzkommando der Polizei versucht, sich gewaltsam durch Aufbrechen der Haustür Zutritt zum Hause eines Mitglieds der "Hells Angels" zu verschaffen, und dieses in der irrtümlichen Annahme, es handele sich um einen Anschlag auf sein Leben durch Mitglieder der konkurrierenden Rockergruppe "Bandidos", zwei Schüsse durch die Tür abgibt, durch die ein Polizeibeamter tödlich getroffen wird.[227] Für die zivilrechtliche Beurteilung der Haftungsfrage ist zu berücksichtigen, dass lediglich die Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung ausgeschlossen ist, bei Vermeidbarkeit des Irrtums aber selbst strafrechtlich eine Verantwortlichkeit wegen einer Fahrlässigkeitstat in Betracht kommt (§ 16 Abs. 1 S. 2 StGB).[228] War der Irrtum vermeidbar, kommt demnach eine zivilrechtliche Haftung in Betracht.[229] Bei der Beurteilung eines Verschuldens bei der irrigen Annahme einer Notwehrlage ist im Zivilrecht der gemäß § 276 BGB maßgebliche objektive Fahrlässigkeitsmaßstab anzuwenden, wobei denjenigen, der sich auf Notwehr beruft, die Beweislast für alle ­Tatsachen trifft, auf die er seine von ihm in Anspruch genommene Rechtfertigung stützt; auch die Entschuldbarkeit eines ihm zuzubilligenden Irrtums hat er nachzuweisen.[230]

 

Rz. 116

Nach § 17 StGB handelt der Täter ohne Schuld, wenn ihm bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, fehlt und er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte; bei Vermeidbarkeit des Irrtums kann die Strafe gemildert werden. Sofern ein Irrtum über die rechtlichen Grenzen des Notwehrrechts vorliegt (der Handelnde glaubt z.B., dass er sich auch bei provozierten Schlägen und Tritten gegen den Angreifer und seinen Helfer ohne Einschränkungen mit dem Messer verteidigen darf), kommt ein solcher Verbotsirrtum in Betracht.[231] Im Zivilrecht gehört zum Vorsatz das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit (Vorsatztheorie), so dass bei einem Verbotsirrtum die Haftung entfällt.[232] Allerdings ist zu beachten, dass bei Anwendung eines strafrechtlichen Schutzgesetzes nach der sog. Schuldtheorie ein Verbotsirrtum nur dann entlastet, wenn er unvermeidbar ist.[233] Soweit die in § 823 Abs. 1 BGB geschützten absoluten Rechte auch strafrechtlichen Schutz genießen (insbesondere Leben, Körper und Eigentum) und insoweit § 823 Abs. 2 BGB mit Abs. 1 konkurriert, wird also in der Regel nur ein unvermeidbarer Verbotsirrtum haftungsbefreiend wirken.[234]

[226] BGH, Urt. v. 2.11.2011 – 2 StR 375/11, NStZ 2012, 272 – Bandidos; BGH, Beschl. v. 11.8.2010 – 1 StR 351/10, NStZ-RR 2011, 238: Messerstich nach verschiedenen Tätlichkeiten; BGH, Beschl. v. 1.3.2011 – 3 StR 450/10, NStZ 2011, 630: Messereinsatz gegen aggressive Ruhestörer; LG Bonn, Urt. v. 15.4.2011 – 23 KLs 5/11, juris: Tödlicher Schuss eines Polizisten in der – irrigen – Annahme, der später Getötete trage eine Schusswaffe, die er ergreifen und unmittelbar gegen den Polizisten richten wollte.
[229] LG Traunstein, Urt. v. 14.3.2007 – 8 O 3929/05, NJW-RR 2007, 1324: Verletzung eines Polizisten, der in eine Parkplatzstreiterei ersichtlich schlichtend eingreifen wollte.
[230] BGH, Urt. v. 18.11.1980 – VI ZR 151/78, VersR 1981, 376: Schuss auf eine Person, die vermeintlich aus einem umzäunten Gelände Leergut einer Brauereiniederlassung stehlen will; AG Oldenburg, Urt. v. 20.7.2010 – 23 C 927/09, juris: Beifahrer glaubte, ein Griff in das Lenkrad sei zur Vermeidung eines schweren Unfalls erforderlich gewesen.
[234] BGH, Urt. v. 10.7.1984 – VI ZR 222/82, a.a.O.; MüKo-BGB/Wagner, § 823 Rn 45.

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