Rz. 81

Grds. ist dem Rechtsanwalt ein "realistischer Toleranzzeitraum"[397] zuzubilligen, in dem er von neuen höchstrichterlichen Entscheidungen Kenntnis zu nehmen hat (vgl. Rdn 63).[398] Ist eine Entscheidung in mehreren Zeitschriften und einem gängigen Kommentar veröffentlicht, muss sie der Berater auffinden.[399] Ist ein Rechtsgebiet erkennbar in der Entwicklung begriffen und ist weitere höchstrichterliche Rechtsprechung zu erwarten, so muss ein Rechtsanwalt, der ein Mandat aus einem solchen Bereich zu erledigen hat, auch Spezialzeitschriften in angemessener Zeit durchsehen.[400]

Übersieht ein Anwalt vor Ablauf dieser angemessenen Zeitgrenze eine neue, den Mandatsgegenstand betreffende höchstrichterliche Entscheidung, so fehlt i.d.R. schon eine Pflichtverletzung, zumindest ein Verschulden. Dies kann ausnahmsweise bei besonderer Eilbedürftigkeit anders sein, z.B. dann, wenn die Einlegung oder Begründung eines fristgebundenen Rechtsmittels von einer solchen Entscheidung abhängt.

Wie lange der realistische Toleranzrahmen zu bemessen ist, hängt sehr von den Umständen des Einzelfalls ab. Handelt es sich um Hauptrechtsgebiete, wie den allgemeinen Teil des BGB, das Schuldrecht und das Sachenrecht, oder um solche, auf deren Bearbeitung der Anwalt spezialisiert ist, wird die Frist mit sechs Wochen ausreichend bemessen sein, im Übrigen mit wenigen Monaten. Hängt die Bearbeitung eines Mandats gerade von erwarteten Änderungen in der Rechtsprechung ab, muss diese sehr viel kurzfristiger nachvollzogen werden.

Die Frage, ob der Anwalt nur die Leitsätze oder auch alle Gründe durcharbeiten muss, ist abhängig von der Bedeutung der Entscheidung. Bei den amtlichen Leitsätzen des BGH, die vom entscheidenden Senat beschlossen werden, werden die wichtigsten Neuerungen herausgestellt. Redaktionelle Leitsätze der Zeitschriften sind nicht in gleicher Weise zuverlässig. Sie betreffen i.d.R. weniger bedeutende oder schon früher entschiedene Probleme.

[397] Vollkommer/Greger/Heinemann, § 11 Rn 28.
[398] BGH, WM 2000, 2431, 2435 = NJW 2001, 675, 678; vgl. BGH, NJW 1958, 825; BGH, NJW 1979, 877; OLG Düsseldorf, VersR 1980, 359 f.; Lange, DB 2003, 869, 871 f.: "Allgemeine Karenzzeit von 4 bis 6 Wochen" nach Veröffentlichung der Entscheidung; OLG Zweibrücken, NJW 2005, 3358: zeitnahe Auswertung zumindest einer allgemeinen juristischen Fachzeitschrift.
[400] BGH, WM 2000, 2431, 2435 = NJW 2001, 675, 678.

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