Rz. 4

Die Unterscheidbarkeit von Individuen begründet sich auf der Heterogenität von Merkmalen und Merkmalskomplexen. Um festgestellte Merkmale einer Person zuordnen zu können, müssen u.a. folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

es muss Vergleichsmaterial vorliegen,
die Merkmale müssen prinzipiell vergleichbar sein,
die Merkmale müssen zeitlich konstant sein bzw. es müssen Erkenntnisse bzgl. ihrer zeitlich bedingten Veränderungen existieren.

Die zeitliche Konstanz ist beim Vergleich von Merkmalen des Gesichtes nur bedingt gegeben, da sich verschiedene Merkmalsausprägungen mit zunehmendem Alter durch Veränderungen der Hautstruktur, des Gewichtes und der Behaarung unterschiedlich stark wandeln können. Diese Inkonstanz betrifft jedoch häufig nur Teilaspekte eines Merkmals und folgt einigen Gesetzmäßigkeiten, sodass die Auswirkungen bis zu einem gewissen Grad vorherzusagen sind.

 

Rz. 5

Der Beweis einer Personenidentität kann durch den Vergleich der Abbilder einer beteiligten Person und einer als identisch vermuteten Person erbracht werden. Identifizieren ist ein objektives Beweisen der Identität durch einen Abgleich von Einzelheiten unter der Voraussetzung der Vergleichbarkeit und der Überprüfbarkeit.[11] Die drei für das Wiedererkennen typischen Kriterien Ganzheitlichkeit, Geschwindigkeit und Prägnanztendenz sind zu vermeiden. Das Ziel ist die Darlegung detaillierter Einzelstrukturen.[12] Zur Identifikation steht neben der Deskription[13] auch die Anthropometrie[14] zur Verfügung.

 

Rz. 6

Das Instrument des Identifizierens im Bildvergleich von Personen ist der menschliche Verstand, der ganz im Gegensatz zum Wiedererkennen aus dem Gesicht oder Gesichtsteilen Merkmalskomplexe abgrenzt, daraus Einzelmerkmale extrahiert, diese hinsichtlich ihrer Ausprägungen beurteilt und mit dem vorliegenden Vergleichsmaterial bzgl. Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung vergleicht (Abb. 1). Dies setzt neben einer angemessenen Sachkunde v.a. Übung voraus. Der Gesamteindruck des Gesichtes fließt dabei nur am Rande in die Begutachtung ein, Kernpunkt der Betrachtung ist der detaillierte Vergleich von Einzelmerkmalen. Der Vergleich erfolgt dabei im Gegensatz zum Wiedererkennen nicht mit im Gedächtnis gespeicherten Mustern, sondern mit einer zum Zeitpunkt des Vergleiches vorliegenden Abbildung.

Abbildung 1: Extraktion der Merkmale

 

Rz. 7

Seit einiger Zeit finden auch elektronische Identifikationssysteme zumeist im Rahmen von Zugriffs-, Zugangs- oder Zutrittskontrollen eine zunehmende Verbreitung, die entweder auf Körper- oder auf Verhaltensmerkmalen basieren. Zu den Verfahren, die auf der Grundlage von Körpermerkmalen arbeiten, gehören auch Programme zur Erkennung von Gesichtern.[15]

Insb. bei dem gutachterlichen Vergleich von Personen im Hinblick auf Identität oder Nichtidentität sollte auf eine eindeutige Verwendung der Begriffe des Wiedererkennens und Identifizierens geachtet werden. Noch bedeutender ist es jedoch, sich der beiden zugrunde liegenden gegensätzlichen Prozesse bewusst zu werden und ein Wiedererkennen, wie es z.B. bei der Gegenüberstellung von Beschuldigten und Angehörigen der Polizei und Justiz (z.B. dem Richter) auftritt, vom gutachterlichen Prozess des Identifizierens zu trennen.

 

Hinweis

Der richterlichen Überzeugung, dass eine beschuldigte Person dem Täter bzw. dem Fahrer entspricht, liegt in erster Linie somit der Prozess des Wiedererkennens und nicht des Identifizierens zugrunde. Erst der gutachterliche Vergleich der Einzelmerkmale bei beiden betrachteten Personen (Täter bzw. Fahrer und beschuldigte Person) führt zu einer Identifikation im eigentlichen Sinne.

Am deutlichsten wird der Gegensatz zwischen diesen beiden Prozessen am Beispiel der Karikatur. Der Zeichner stellt hier persönlichkeitstypische Merkmale einer Person überspitzt dar, sodass der Betrachter bereits beim ersten Blick das Wesentliche erfasst und durch Wiedererkennen eine Zuordnung zu einer Person mit hinreichend großem Bekanntheitsgrad erfolgen kann. Würde man die Karikatur und eine Vergleichsaufnahme der­selben Person für eine Identifikation heranziehen, so wäre in den meisten Fällen ein ­"nichtidentisch" das Ergebnis dieses Gutachtens, da der Zeichner zwar das Wesentliche, jedoch nicht die korrekten morphologischen Einzelheiten der betreffenden Person darstellt.

[11] Brinker H (1985) Identifizieren und Wiedererkennen – Bemerkungen zum Unterschied und zur Beweisqualität. Archiv für Kriminologie 176: 142 – 145.
[12] Buhmann D, Helmer RP, Jaeger U, Jürgens HW, Knußmann R, Rösing FW, Schmidt HD, Szilvassy J, Ziegelmayer G (1999) Standards für die anthropologische Identifikation lebender Personen nach Bildern. Kriminalistik 4: 246 – 248.
[13] Scheidt W (1931) Physiognomische Studien an niedersächsischen und oberschwäbischen Landbevölkerungen. Gustav Fischer, Jena; Keiter F (1934) Über Korrelation der Gesichtszüge. Anthropologischer Anzeiger 11: 243 – 251; Schwidetzky I (1967) Die metrisch-morphologischen Merkmale und der fälische Typus. In: Schwidetzky I,...

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