Rz. 151

Das Mitbestimmungsrecht greift nach § 87 Abs. 1 ES BetrVG nicht, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung besteht. Denn existiert bereits eine Norm zum Regelungsgegenstand, ist der Arbeitnehmer hinreichend geschützt, sodass es der Mitwirkung des Betriebsrats nicht bedarf.[460] Dies setzt freilich voraus, dass dem Arbeitgeber aufgrund der gesetzlichen Regelung kein Entscheidungsspielraum mehr bleibt.[461] Es muss sich also um zwingendes Gesetzesrecht (förmliche Gesetze, Verordnungen, autonome Satzungen) handeln,[462] welches eine abschließende Regelung trifft. Nach der Rechtsprechung kann die Mitbestimmung auch durch Verwaltungsakt eingeschränkt sein.[463] Dieser sog. Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 ES BetrVG ist von dem sogenannten Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG zu unterscheiden.

 

Hinweis

Daher besteht z.B. hinsichtlich der Frage, ob eine Beschwerdestelle i.S.d. AGG eingerichtet werden soll, kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates, da § 13 AGG eine entsprechende gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers vorsieht und damit insoweit eine abschließende Regelung darstellt.[464] Nach der Rechtsprechung ist auch die Besetzung der Beschwerdestelle mitbestimmungsfrei; ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 I Nr. 1 BetrVG besteht aber hinsichtlich der Ausgestaltung des Verfahrens vor der Beschwerdestelle.[465]

Auch hinsichtlich des "Ob" der Einführung eines betrieblichen Rauchverbots dürfte aufgrund der Existenz von § 5 Abs. 1 S. 2 ArbStättV ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates ausscheiden.[466]

 

Rz. 152

Nach der Rechtsprechung[467] schließen ausländische Vorschriften wegen des Territorialitätsprinzips die Mitbestimmungsrechte jedenfalls dann nicht als gesetzliche Norm aus, wenn keine wirksame (völkerrechtliche) Umsetzung in das deutsche Recht erfolgte.

 

Rz. 153

Auch die betriebliche Regelung selbst ist wiederum den Grenzen zwingenden staatlichen Rechts unterworfen (z.B. §§ 134, 138 BGB). Betriebsvereinbarungen unterliegen nach § 310 Abs. 4 S. 1 BGB zwar nicht den für Allgemeine Geschäftsbedingungen geltenden gesetzlichen Regelungen der §§ 305 ff. BGB.[468] Die strengen Vorgaben zur Inhalts- oder Transparenzkontrolle nach § 307 BGB finden also keine Anwendung.[469]

 

Rz. 154

Die Rechtsprechung nimmt aber eine Rechts- und Billigkeitskontrolle vor.[470] Maßgeblich sind der Gleichbehandlungsgrundsatz und – insbesondere bei verschlechternden Betriebsvereinbarungen – Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit.[471] Die Betriebsparteien haben jedoch einen recht weiten Beurteilungsspielraum hinsichtlich der tatsächlichen Voraussetzungen und Folgen der von ihnen gesetzten Regelungen.[472]

[460] BAG 28.5.2002 – 1 ABR 37/01, NZA 2003, 171; Preis/Greiner, § 149 Rn 2204.
[461] HSWG/Worzalla, § 87 BetrVG Rn 51; ErfK/Kania, § 87 BetrVG Rn 13.
[462] Fitting u.a., § 87 BetrVG Rn 32; Wlotzke/Preis/Bender, § 87 BetrVG Rn 20; Preis/Greiner, § 149 Rn 2205.
[463] BAG 11.12.2012 – 1 ABR 78/11, NZA 2013, 913; Preis/Greiner, § 149 Rn 2206.
[464] LAG Hamburg 17.4.2007 – 3 TaBV 6/07, NZA-RR 2007, 413; Westhauser/Sediq, NZA 2008, 781; Walk/Shipton, BB 2012, 1917.
[466] Uhl/Polloczek, BB 2008, 1114. Im Betrieb einer Spielbank besteht z.B. kein Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Ausgestaltung der Videoüberwachung, wenn diese bereits im Bescheid zum Betrieb einer Spielbank verbindlich aufgeführt ist. In der Betriebserlaubnis mit der Auflage der Videoüberwachung schließt als gesetzliche Regelung nach § 87 I Nr. 1 BetrVG die Mitbestimmung aus; BAG 11.12.2012 – 1 ABR 78/11, NZA 2013, 913.
[467] BAG 22.7.2008 – 1 ABR 40/07, NZA 2008, 1248, dazu ausführlich Boemke, DB 2010, 843 ff.
[470] BAG 30.1.1970 – 3 AZR 44/68, DB 1970, 1393; BAG 8.12.1981 – 3 ABR 53/80, DB 1982, 46; kritisch z.B. GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rn 299 ff. m.w.N. Schaub/Koch, Arbeitsrechts-Handbuch, § 231 Rn 10.
[471] GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rn 306.

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