Rz. 42

Ergibt sich ausnahmsweise aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen als dem Staat hatte, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so ist gem. Art. 21 Abs. 2 EuErbVO auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht dieses anderen Staates anzuwenden (Ausweichklausel).

 

Rz. 43

Der Sinn dieser Klausel erschließt sich nur schwer. Geht man von einem einheitlichen Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts für sämtliche Bereiche des IPR aus (vgl. Rdn 8), so würde eine solche Klausel eine Problemlösung für die Fälle bieten, in denen der gewöhnliche Aufenthalt nicht in dem Staat liegt, mit dem der Erblasser in der für das Erbrecht angemessenen Art und Weise langfristig verwurzelt ist. Für solche Fälle wäre die Vorbehaltsklausel hilfreich.

 

Rz. 44

Geht man allerdings mit der Rechtsprechung des EuGH und den Erwägungsgründen 23 und 24 EuErbVO davon aus, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen der EuErbVO nach "erbrechtsspezifischen" Maßstäben bestimmt (siehe Rdn 5 ff.), so fließen die Wertungen, die die Ausweichklausel in Art. 21 Abs. 2 EuErbVO berücksichtigen will, bereits in die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts ein. Die Offenheit des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts macht dann diese Korrekturklausel überflüssig.[39] Die in der Literatur teilweise angebotenen Beispielsfälle für die Ausweichklausel lassen sich m.E. überwiegend auch mit einer "erbrechtsspezifischen" Interpretation des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts angemessen lösen.

 

Rz. 45

Damit kristallisieren sich folgende Anwendungsfelder heraus:

Der Erblasser hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem exotischen Drittstaat (Urwaldarzt, Ingenieur am Golf, Geschäftsmann in Malaysia), so dass die inländischen Gerichte ausschließlich wegen der Staatsangehörigkeit oder der Vermögensbelegenheit zuständig sind (Art. 10 EuErbVO). Hier führt die Ausweichklausel ggf. zum inländischen Recht.
Der Erblasser hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt zwar im Inland, aber ein Testament nach einem anderen Recht errichtet. War der Erblasser mit diesem Staat durch eine Staatsangehörigkeit verbunden, würde man darin eine konkludente Rechtswahl sehen (siehe Rdn 99). Konnte er dieses Recht aber nicht gem. Art. 22 EuErbVO wählen, so mag sich darin ggf. eine "offensichtlich engere Verbindung" ergeben. Freilich müsste diese sich dann aus der "Gesamtheit der Umstände" ergeben, also über das Testament hinausgehend auch aus anderen Handlungen des Erblassers (z.B. von ihm verwandte Sprache, kulturelle und religiöse Verbindungen).[40]
 

Rz. 46

Folgende Fälle erscheinen aber eher ungeeignet:

Ist der Erblasser erst kurz vor seinem Tode in einen anderen Staat umgezogen, so ist es angemessen, die Erbfolge dem Recht der "neuen Heimat" zu unterstellen, sollte er tatsächlich den gewöhnlichen Aufenthalt im Herkunftsstaat aufgegeben und im Zuzugsstaat tatsächlich einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet haben. Sollte er dagegen weiterhin erheblich engere Bindungen zu einem anderen Staat beibehalten haben (vgl. das Beispiel in EG 25 S. 1 EuErbVO), so spricht m.E. alles dafür, dass er den alten gewöhnlichen Aufenthalt nicht aufgegeben hat.[41]
Wird der pflegebedürftige Erblasser in ein Heim jenseits der Grenze verbracht (weil preisgünstiger, in der Nähe der Kinder oder sonniger), so wird es zu keiner sozialen Integration kommen, wenn er passiv bleibt und das Gebiet des Sanatoriums nicht verlässt. Auch dies ist kein Problem der engeren Verbindung, sondern schon mit der Formel des EuGH zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts zu lösen.[42]
Denken könnte man schließlich auch an die Fälle der arglistigen Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts in ein "Pflichtteilsparadies", um Ehegatten oder Abkömmlinge effektiv vom Nachlass auszuschließen. In diesen Fällen müsste man freilich entscheiden: Hält der Erblasser erhebliche Verbindungen zum ursprünglichen Aufenthaltsstaat aufrecht, so hat er möglicherweise nur scheinbar einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, eigentlich aber den alten Lebensmittelpunkt beibehalten. Hier läge dann keine Verlegung, sondern nur eine Simulation vor. Hat er aber konsequent mit dem ursprünglichen Aufenthaltsstaat abgebrochen, so gibt es für ihn es keine "engere Beziehung" mehr dorthin, sondern allenfalls für seine Hinterbliebenen. Dann ist auch die Pflichtteilsregelung am neuen Aufenthalt anzuwenden. In "krassen" Fällen käme allein eine Korrektur durch den ordre public in Betracht.
 

Rz. 47

Abschließend stehen auch aufgrund der verfahrensrechtlichen Vorgaben die Chancen für einen praktischen Einsatz der Ausweichklausel ungünstig: Bei der Anknüpfung des Erbstatuts an den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers kommt es gem. Art. 4 ff. EuErbVO zu einem Gleichlauf von forum und lex. Für eine Anwendung der Ausweichklausel müsste das zuständige Gericht aber feststellen, dass trotz des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers im Forumstaat die Verbindung zu einem anderen ...

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