Rz. 5

Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts taucht im Recht an vielen Stellen auf. So kennt das deutsche Recht eine Definition in § 9 AO und in § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I. Die Haager Abkommen zum Internationalen Privatrecht benutzen seit dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig den gewöhnlichen Aufenthalt als Anknüpfungspunkt zur Bestimmung des Personalstatuts (für Deutschland verbindlich z.B. die Haager Unterhaltsabkommen von 1956 und 1973, das Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) von 1996, das Haager Erwachsenenschutzübereinkommen (ESÜ) von 2000 und das Haager Unterhaltsprotokoll von 2007). Schließlich taucht der gewöhnliche Aufenthalt auch im EG-Recht an vielen Stellen auf. Die Rechtsprechung betrifft insbesondere Fälle aus dem Arbeits- und Sozialrecht und aus dem internationalen Zivilverfahrensrecht, vor allem der Brüssel IIa-VO.

 

Rz. 6

Zum Vorschlag der Kommission für die EuErbVO war einmal die Ansicht vertreten worden, der Zusammenhang mit dem Haager Testamentsformübereinkommen erzwinge eine Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts nach der jeweiligen nationalen lex fori.[5] Die mit der EuErbVO angestrebte Vereinheitlichung des internationalen Erbrechts kann freilich nicht erreicht werden, wenn die Regeln in jedem der Mitgliedstaaten abweichend ausgelegt werden. Daher wird für internationale Rechtsnormen, insbesondere auch die Rechtsakte der EU, eine "autonome" Auslegung dahingehend vertreten, dass eine von der nationalen Rechtsordnung losgelöste einheitliche Interpretation auf der Ebene des EU-Rechts erfolgen muss.[6]

 

Rz. 7

Umstritten ist aber im deutschen Schrifttum die Frage, ob nicht zumindest im Internationalen Privatrecht der EU der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts einheitlich auszulegen sei, der gewöhnliche Aufenthalt im internationalen Erbrecht also genauso bestimmt werden müsse wie in anderen Rechtsakten der Europäischen Union auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts und des Internationalen Zivilverfahrensrechts.

 

Rz. 8

Für eine rechtsaktübergreifend einheitliche Auslegung[7] spricht insbesondere die Kohärenz des Internationalen Privatrechts. Es würde die Rechtsanwendung im Bereich des IPR erleichtern und die Herausbildung eines einheitlichen IPR in der EU ermöglichen, wenn derselbe Begriff im Rahmen jeder Verordnung gleich auszulegen wäre. Vor allem ist darauf hinzuweisen, dass bei unterschiedlicher Auslegung des Begriffs in den einzelnen Sachbereichen die gesetzgeberische Entscheidung für einen bestimmten Anknüpfungspunkt praktisch aufgegeben wird, indem die Rechtsprechung diesen quasi auf seinen Kernbereich reduziert und sich damit die Freiheit schafft, in den vom Kernbereich nicht erfassten Randfällen die Anknüpfung des Erbstatuts frei von der Festlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in den übrigen Rechtsbereichen fallbezogen zu gestalten. Eine relative, sachgebietsspezifische Auslegung des Begriffs wird daher von einem Teil der Lehre mit vielen guten Gründen abgelehnt.[8]

 

Rz. 9

Jedoch wird selbst von diesen Autoren anerkannt, dass selbst im Bereich des IPR der gewöhnliche Aufenthalt mittlerweile in derart unterschiedlichen Sachzusammenhängen eingesetzt wird, dass eine einheitliche Definition kaum durchzuhalten sei.

 

Rz. 10

 

Beispiel:

Ein polnischer Student ist nach Erlangung des Bachelor in Krakau zur Durchführung eines Masterstudiengangs nach Toulouse gegangen. Nach Abschluss der Magisterarbeit verkauft er seinen Renault an einen polnischen Kommilitonen, weil er diesen nicht nach Polen zurücknehmen will. Noch vor der Übergabe rast er mit dem Wagen in den Tod. Der Kommilitone verlangt von den Erben Schadensersatz.

 

Rz. 11

In diesem Beispielsfall bestimmt sich – mangels Rechtswahl – sowohl das auf den Schadensersatzanspruch aus dem Kaufvertrag anwendbare Recht (Art. 4 Rom I-VO) als auch das für die Bestimmung und die Haftung der Erben maßgebliche Erbstatut (Art. 21 EuErbVO) anhand des gewöhnlichen Aufenthalts des polnischen Studenten. Bei der Bestimmung des Vertragsstatuts wird man eher auf die objektiven Umstände abstellen und in dem Studienaufenthalt in Toulouse trotz seiner Befristung einen hinreichenden persönlichen Bezug zum französischen Recht sehen. Dagegen wird man auf dem Bereich des Erbrechts die durch den Studienaufenthalt nicht beeinträchtigten persönlichen und familiären Beziehungen nach Polen in den Vordergrund stellen. Es wäre seltsam, in diesem Fall die ausschließliche Zuständigkeit der französischen Gerichte für einen erbrechtlichen Rechtsstreit zwischen den in Polen verbliebenen Verwandten und eine Anwendbarkeit französischen Erbrechts anzunehmen.[9]

 

Rz. 12

Solomon nimmt diese Situation nur zum Anlass, eine differenzierte Verwendung des gewöhnlichen Aufenthalts als Anknüpfungspunkt durch den Gesetzgeber zu fordern, hält aber im Übrigen allenfalls eine abweichende Anknüpfung in Fragen des Schuldvertrags- und Deliktsrechts denkbar, wo es um Rechtsfolgen eines punktuellen Kontakts gehe.[10]

 

Rz. 13

Diese Auffassung scheint durch die Ausweichregelung in Art. 21 Abs. 2 EuErbVO

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