Rz. 459

Durch einen Tarifvertrag – und in begrenzten Fällen auch durch eine Betriebsvereinbarung – können gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG von den gesetzlichen Strukturen abweichende betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheiten gebildet werden. Dies führt häufig dazu, das bisher eigenständige Betriebe zusammengefasst werden (z.B. Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats, Bildung von Regionalbetriebsräten, Bildung von Spartenbetriebsräten).

 

Rz. 460

Die Zusammenfassung vollzieht sich dabei jedoch anders als in den bisher behandelten Fällen zunächst einmal auf rein rechtlicher Ebene und nicht auf tatsächlicher Ebene: Die bisher eigenständigen Betriebe gelten aufgrund des Tarifvertrags oder der Betriebsvereinbarung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG gem. § 3 Abs. 5 BetrVG als Betrieb, es entsteht durch diese Vereinbarung ein fingierter Einheitsbetrieb.[520]

 

Rz. 461

Da allein die Errichtung einer betriebsorganisatorischen Einheit im Wege der Zusammenfassung von Betrieben durch einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG nicht notwendig mit einer tatsächlichen Veränderung der bisherigen Betriebsorganisation einhergeht, führt sie nach der Rechtsprechung des BAG auch grundsätzlich nicht zum Verlust der betriebsverfassungsrechtlichen Identität der zusammengefassten Betriebe. Diese bleiben vielmehr abgrenzbare Teileinheiten der größeren betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheit.[521]

 

Rz. 462

Aus diesem Grund lässt auch die Errichtung einer betriebsorganisatorischen Einheit nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG im Wege der Zusammenfassung von Betrieben als solche nach der Rechtsprechung und der h.M. in der Literatur[522] die normative Wirkung der in den weiterhin organisatorisch abgrenzbaren Teileinheiten des fingierten Gesamtbetriebs unberührt: "Der Fortbestand der betrieblichen Einheiten hat zur Folge, dass die in ihnen geltenden Betriebsvereinbarungen im fingierten Einheitsbetrieb normativ fortwirken. Ihre Geltung ist beschränkt auf den Betriebsteil des Einheitsbetriebs, der ihrem bisherigen Geltungsbereich entspricht."[523]

 

Rz. 463

Nimmt der Arbeitgeber den Abschluss der Vereinbarung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG jedoch zum Anlass, auch auf betrieblicher Ebene Änderungen durchzuführen, können diese zu einer Beendigung der normativen Wirkung der Betriebsvereinbarungen führen.[524] Entscheidend ist nach der Rechtsprechung des BAG, ob diese zusätzlichen Maßnahmen die Identität der zusammengefassten Einheiten berührt oder ob "die ursprüngliche organisatorische (Teil-)Einheit als betriebsverfassungsrechtlicher Bezugspunkt fortbesteht". Das soll wiederum davon abhängen, "ob die Organisation der Arbeitsabläufe, der Betriebszweck und die Leitungsstruktur, welche die Betriebsidentität prägen, nach der erfolgten Zusammenfassung von Betrieben zu neuen Organisationseinheiten unverändert geblieben sind".[525]

 

Rz. 464

Das bedeutet, dass allein die Zusammenfassung betrieblicher Einheiten zu einem fingierten Betrieb durch Abschluss einer Vereinbarung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG als solche die normative Geltung der in den zusammengefassten Einheiten bestehenden Betriebsvereinbarungen unberührt lässt. Kommen jedoch betriebliche Veränderungen hinzu, dürften die allgemeinen Grundsätze für unternehmensinterne Umstrukturierungen gelten.[526]

 

Rz. 465

Führt also beispielsweise die Errichtung standortbezogener Spartenbetriebsräten gem. § 3 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG dazu, dass ein zuvor einheitlicher Betrieb in zwei Spartenbetriebe gespalten wird, dürften die Betriebsvereinbarungen in den durch die Spaltung entstandenen und ansonsten unverändert weitergeführten "spartenreinen" betrieblichen Einheiten normativ weitergelten, da diese mit den ursprünglichen einheitlichen Betrieb zumindest teilidentisch sind.[527]

 

Rz. 466

Legt man die Argumentation des BAG in den Entscheidungen vom 18.3.2008[528] und vom 7.6.2011[529] zugrunde, gelten auch Gesamt- und Konzernbetriebsvereinbarungen bei einer Zusammenfassung betrieblicher Einheiten durch Vereinbarung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG ohne (wesentliche) Änderungen auf betrieblicher Ebene normativ weiter. Ob (echte) Gesamtbetriebsvereinbarungen dabei als Gesamtbetriebsvereinbarung oder als Einzelbetriebsvereinbarung weitergelten, dürfte sich nach der Art der durch die Vereinbarung geschaffenen gewillkürten betriebsverfassungsrechtlichen Struktur richten. Bei Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1a BetrVG entfällt die Gesamtbetriebsratsfähigkeit des Unternehmens, so dass nur eine Weitergeltung als Einzelbetriebsvereinbarung in Betracht kommt. Gibt es hingegen weiterhin einen Gesamtbetriebsrat, dürften die echten Gesamtbetriebsvereinbarungen als solche normativ weitergelten.

[522] DKKW/Trümner, § 3 Rn 209; Fitting u.a., § 3 Rn 77; GK-BetrVG/Franzen, § 3 Rn 62; ErfK/Koch, § 3 BetrVG Rn 12; WHSS/Hohensta...

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