Rz. 56

Ist ein dem Grunde nach versicherter Schaden durch eine vorsätzliche unerlaubte Handlung einer Vertrauensperson eingetreten, stellt sich in der Praxis häufig die Frage, ob ein deckungsschädliches Eigenverschulden (Organisations- bzw. Überwachungsverschulden) des Versicherungsnehmers bzw. seiner Repräsentanten vorliegt, da diese – so der Vorwurf – grob fahrlässig das zum Eintritt des Versicherungsfalls führende Verhalten der Vertrauensperson nicht verhindert haben und insbesondere ihrer Pflicht, Gesetzesverstößen nachgeordneter Mitarbeiter bereits im Vorfeld durch geeignete Schutzvorkehrungen entgegenzuwirken, nicht nachgekommen sind.[90]

Hierbei bedarf zunächst die Frage der Klärung, ob eine Kürzung der Leistung gem. § 81 Abs. 2 VVG in der VSV nicht bereits deswegen ausscheidet, da das vorsätzliche Verhalten eines Repräsentanten – unter der Voraussetzung, dass dieser zugleich Vertrauensperson ist – nicht zur Anspruchskürzung berechtigt (vgl. dazu noch unten Rdn 64) und daher gegen die Anwendung von § 81 Abs. 2 VVG ein Erst-Recht-Schluss streite. Diesem, von einer Ansicht[91] im Schrifttum befürworteten Standpunkt steht die auch von der Rechtsprechung geteilte Auffassung[92] gegenüber, der zufolge § 81 Abs. 2 VVG in der VSV uneingeschränkt zur Anwendung gelange. Dem ist zuzustimmen. Denn angesichts des Schutzzwecks der VSV, wonach Versicherungsschutz gerade nur gegen vorsätzliche, unerlaubte Handlungen von Vertrauenspersonen besteht, vermag die Annahme einer auch insoweit bestehenden vertragszweckimmanenten Abbedingung nicht zu überzeugen.

Eine Anspruchskürzung gem. § 81 Abs. 2 VVG wegen mangelhafter Organisations- und Überwachungsstruktur setzt jedoch weiter voraus, dass auch ein entsprechendes Handlungsgebot bestand und zwischen dem in Rede stehenden Unterlassen und dem eingetretenen Schaden ein Kausalzusammenhang besteht. Dieser ist aber nur dann gegeben, wenn sich feststellen lässt, dass die gebotene Überwachungsmaßnahme zum Erfolg geführt und die Vermögenseinbuße verhindert hätte. Mittlerweile ist unbestritten, dass die Geschäftsleitung grundsätzlich die Pflicht trifft, rechtswidriges Verhalten innerhalb eines Unternehmens durch geeignete organisatorische Vorkehrungen zu unterbinden.[93] Problematisch ist jedoch, dass in der Regel auch davon ausgegangen werden soll, bei Errichtung eines effektiven Compliance-Systems wären Rechtsverletzungen der dann entsprechend überwachten Mitarbeiter verhindert worden,[94] zumal der dem Versicherer obliegende Beweis grob fahrlässigen Verschuldens sodann durch die vorliegenden Indiztatsachen ohne Weiteres zu führen wäre. Eine mangelhafte Organisations- und Überwachungsstruktur wäre hernach nicht nur ein mögliches, sondern ein notwendiges Durchgangsstadium im Rahmen der Verwirklichung des versicherten Risikos.

Indem die VSV gerade abgeschlossen wird, da sich der Versicherungsnehmer bestimmte Schäden durch ungetreue Vertrauenspersonen als möglich vorstellt und die(se) berechtigten Deckungserwartungen in die gebotene interessensgerechte Auslegung einfließen, ist indessen die Kenntnis von Umständen zu fordern, aus denen sich ergibt, dass der Eintritt des Versicherungsfalls in den Bereich der praktisch unmittelbar in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten gerückt ist,[95] um einen (beschränkten) Leistungsausschluss zu begründen. Jedenfalls nicht gerechtfertigt ist es, bei einer erstmaligen Fehlleistung ein anspruchsminderndes Organisationsverschulden anzunehmen, ohne substanziiert darzutun, dass bei Beachtung gebotener Vorkehrungen eine bestimmte, individuell abzugrenzende unerlaubte Handlung nicht eingetreten wäre, da diese Fallgestaltungen andernfalls in die Nähe einer Verschuldensvermutung gerückt würden.

[90] Vgl. Herdter/Winkler, BB 2016, 2056 ff.
[91] So MüKo-VVG/Grote, Vertrauensschadenversicherung, Rn 157; vgl. auch Terbille/Schneider, § 29 Rn 171; Herdter/Winkler, BB 2016, 2056, 2060 ff.
[92] Vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 5.6.2013 – 3 U 204/11 (juris; nachgehend BGH, Beschl. v. 14.1.2015 – IV ZR 237/13, Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen); Looschelders, VersR 2013, 1069, 1073; Looschelders/Waiblinger, in: Looschelders/Pohlmann, Anh. D, Vertrauensschadenversicherung, Rn 91.
[93] Hüffer/Koch/J. Koch, § 76 AktG, Rn 13 ff m.w.N.
[94] KölnerKomm-AktG/Mertens/Cahn, 93 Rn 142 (Anscheinsbeweis im Einzelfall); Meier-Grete, BB 2009, 2555, 2560 (Beweislastumkehr); differenzierend Fleischer, NZG 2014, 321, 328.
[95] Zu den Anforderungen bei der Herbeiführung des Versicherungsfalls durch Unterlassen nur BGH VersR 2005, 218, 220.

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