Rz. 52

Viele Schwierigkeiten bereitet in der Praxis nach dem Eintritt des ersten Erbfalls die Frage, ob die Ehegatten wechselbezüglich verfügt haben und ob hierdurch eine Bindungswirkung eingetreten ist.[85] Die Bindungswirkung führt zum einen dazu, dass der überlebende Ehegatte keine zu Lasten der als Schlusserben Bedachten gehende Verfügung von Todes wegen treffen darf.[86] Zum anderen führen Wechselbezüglichkeit und Bindungswirkung zu einer entsprechenden Anwendung der §§ 22862288 BGB, was dem überlebenden Ehegatten zwar ermöglicht, zu Lebzeiten wirksam über den Nachlass zu verfügen.[87] Bei unentgeltlichen Verfügungen hat das jedoch zur Folge, dass dem dadurch benachteiligten Schlusserben ein Herausgabeanspruch nach bereicherungsrechtlichen Vorschriften zustehen kann,[88] sofern der überlebende Ehegatte kein lebzeitiges Eigeninteresse an der unentgeltlichen Verfügung hatte.[89] Denn § 2287 BGB findet nach h.M. auch auf bindend gewordene Verfügungen in gemeinschaftlichen Testamenten Anwendung.[90]

 

Rz. 53

Ob eine wechselbezügliche und bindende Verfügung von Todes wegen vorliegt, ist zunächst durch individuelle Auslegung zu ermitteln (§§ 133, 157 BGB).[91] Bei gemeinschaftlichen Testamenten kommt es dabei auf den Willen beider Ehegatten an.[92] Dabei geht die Rechtsprechung teilweise davon aus, dass bei einer intakten Familie der eine Ehegatte die gemeinsamen Abkömmlinge zugunsten des anderen Ehepartners nur übergeht, wenn den Kindern nach dem Überlebenden das gemeinschaftliche Vermögen zufällt.[93]

Führt die individuelle Auslegung zu keinem Ergebnis, wird nach § 2270 Abs. 2 BGB eine Wechselbezüglichkeit vermutet, wenn sich Ehegatten gegenseitig bedenken (Alt. 1) oder wenn der eine Ehepartner den anderen einsetzt und dieser eine Person einsetzt, die mit dem Erstverstorbenen verwandt ist oder ihm sonst nahesteht (Alt. 2).[94]

Die Tatsache, dass gemäß § 2270 Abs. 2 BGB Wechselbezüglichkeit und Bindungswirkung vermutet werden, wenn sich die Ehegatten gegenseitig bedenken und eine ihnen nahe stehende Person zum Schlusserben bestimmen, führt zu einer Vielzahl von unerwünschten Folgen, die bei richtiger Aufklärung von den Ehegatten häufig nicht gewollt waren. Insofern ist der Berater gerade hier gefragt, hinreichende Erläuterungen über die Vor- und Nachteile von wechselbezüglichen Verfügungen zu geben und eine entsprechende Freistellungsklausel im Sinne der Interessen der Mandanten auszuarbeiten.

[85] Vgl. zur Frage der Wechselbezüglichkeit, wenn Ehepartner in zeitlich auseinanderliegenden Verfügungen erst sich gegenseitig und dann nur die Schlusserben eingesetzt haben, BayObLG ZEV 1999, 227.
[86] Vgl. hierzu MüKo/Musielak, § 2271 Rn 16, 17.
[87] MüKo/Musielak, § 2271 Rn 45 ff.
[88] MüKo/Musielak, § 2287 Rn 1.
[89] Vgl. Palandt/Weidlich, § 2287 Rn 6.
[90] BGHZ 82, 274; BGH DNotZ 1951, 344.
[91] Vgl. hierzu § 9 Rdn 4 ff.
[93] Schleswig-Holsteinisches OLG NotZB 2014, 194; OLG Oldenburg FamRZ 1999, 1537; OLG Hamm FamRZ 2002, 777.
[94] Brandenburgisches OLG ErbBstG 2013, 284.

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