Rz. 12

Von immenser Bedeutung für die Praxis ist vor allem auch § 828 BGB, der bei der Unfallbeteiligung von Minderjährigen zu beachten ist. Nach dessen Abs. 1 BGB sind Kinder vor Vollendung ihres siebten Lebensjahres für einen Schaden, den sie einem anderen zufügen, noch nicht verantwortlich und – spiegelbildlich – auch nicht gem. § 254 BGB mitverantwortlich für einen eigenen Schaden. Entsprechendes gilt seit dem zum 1.8.2002 in Kraft getretenen 2. Schadensersatzrechtsänderungsgesetz[32] nunmehr – mit Ausnahme des Vorliegens von Vorsatz – regelmäßig auch für Kinder, die zwar schon das siebte, nicht aber auch das zehnte Lebensjahr vollendet haben, für die Schädigung anderer bei Unfällen mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn (§ 828 Abs. 2 BGB). Das trägt neueren Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie Rechnung, wonach Kinder (jedenfalls) bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahrs zumeist nicht in der Lage sind, die Gefahren des modernen Straßenverkehrs zu erkennen und ihr Verhalten danach auszurichten.[33]

 

Rz. 13

Die Norm enthält demgemäß eine (widerlegliche) Vermutung für die Deliktsunfähigkeit der Kinder,[34] sofern sich in concreto eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs (z.B. Schnelligkeit) realisiert hat,[35] und schließt folgerichtig ggf. nicht nur deren Haftung für Schäden Dritter, sondern regelmäßig auch eine Mithaftung für eigene Schäden aus.[36] Mit Blick auf die bloß sektorale Regelung für (motor-) verkehrstypische Überforderungssituationen ist § 828 Abs. 2 S. 1 BGB de lege lata unanwendbar wo es an einer solchen Situation fehlt, so etwa – schon aufgrund des insoweit eindeutigen Gesetzeswortlauts – bei Unfällen mit nichtmotorisierten Dritten wie z.B. Radfahrern.[37] Selbst bei Unfällen unter Beteiligung von Kraftfahrzeugen kommt die Privilegierung der Kinder gemäß § 828 Abs. 2 BGB zudem nicht zum Tragen, wo die Komplexität, Schnelligkeit, Unübersichtlichkeit des Verkehrs ohne Bedeutung sind, wie etwa bei einer Kollision mit ruhendendem Verkehr.[38] Nachdem die §§ 827829 BGB zudem nur die Verschuldenshaftung regeln, gilt § 828 Abs. 2 BGB auch nicht, sofern (ausnahmsweise) eine Gefährdungshaftung des Kindes – etwa als Halter oder Eisenbahnunternehmer – in Betracht kommt.[39]

 

Rz. 14

Bei älteren Kindern bzw. Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs ist gemäß § 828 Abs. 3 BGB eine Verantwortlichkeit für einen Schaden ausgeschlossen, sofern bei der Begehung der schädigenden Handlung die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht (intellektuelle Einsichtsfähigkeit) fehlt.[40] Bezogen auf den für § 254 BGB anzulegenden Maßstab ist demnach die Einsichtsfähigkeit dahin maßgeblich, dass man sich selbst vor Schaden zu bewahren hat,[41] die früher gegeben sein kann als die Einsicht, dass andere nicht geschädigt werden dürfen.[42] Auf die individuelle Fähigkeit, sich auch der Einsicht gemäß zu verhalten (Steuerungsfähigkeit), kommt es nicht an.[43]

 

Rz. 15

Bei der Beurteilung des jeweiligen Falles ist dabei grundsätzlich zunächst taggenau von den jeweiligen gesetzlichen Altersgrenzen auszugehen.[44] In der Regel wird danach jedoch das Mitverschulden eines Minderjährigen hinter der (Mit-)Haftung eines Erwachsenen zurückbleiben, wobei sich die Quote mit zunehmendem Alter und wachsender Einsichtsfähigkeit vergrößert.[45] Insoweit ist allgemein die Verstandesreife von Kindern, die typischerweise bei der entsprechenden Altersgruppe zu beobachten ist, zugrunde zu legen.[46] Danach sollen etwa auch Kinder zwischen zehn und 14 Jahren gegenüber Erwachsenen immerhin noch deutlich verlängerte Reaktionszeiten aufweisen, eher affektbedingt reagieren und leicht ablenkbar sein. Erst ab 14 Jahren wird ihnen – typischerweise – eine dauerhafte Konzentrationsfähigkeit zugesprochen und ab 15 Jahren eine Reaktionsfähigkeit wie bei Erwachsenen.[47] De lege lata ist jedoch Raum für die umfassende Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, namentlich besonderer Fähigkeiten oder auch Einschränkungen der Betreffenden wie auch spezieller Unfallkonstellationen.[48] Infolgedessen kann je nach (fehlender) Einsichtsfähigkeit und Konstellation – einerseits – eine Mithaftung des Kindes auch über die Vollendung des zehnten Lebensjahres hinaus völlig ausscheiden oder aber auch – andererseits – ein minderjähriger Geschädigter im Einzelfall für die Unfallfolgen alleine haften müssen.[49] Letzteres gilt beispielsweise, wenn ein 17 ½-jähriger, mithin fast volljähriger, zudem unter Drogen stehender Fußgänger, der bei Dunkelheit, Handy-nutzend und ohne Rücksicht auf einen zulässigerweise mit 100 km/h herannahenden Pkw unmittelbar vor diesem eine Landstraße überquert und erfasst wird[50] oder ein 15-jähriger Mofa-Fahrer beim Einfahren gemäß § 10 S. 1 StVO nach links in den fließenden Verkehr mit letzterem kollidiert.[51] In den meisten Fällen wird indes ein Mitverschulden von – insbesondere jüngeren – Jugendlichen aber nicht zum...

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