Rz. 910

Bei dem Abschluss eines neuen Tarifvertrages kann die Situation eintreten, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, die Erhöhung des Tariflohnes weiter zu geben. Dies kann für den Fall, dass der Arbeitgeber über- und außertarifliche Entgelte gezahlt hat, für diesen zu einem Anrechnungsbedarf führen. Nach der bisherigen Rspr. sollte selbst in dem Fall, wenn kein ausdrücklicher Anrechnungsvorbehalt im Arbeitsvertrag vorgesehen war, eine Anrechnung individualvertraglich grds. zulässig sein. Die Begründung fiel dahin gehend aus, dass die Arbeitsvertragsparteien die Anrechnung von übertariflichen Zulagen stets zulassen wollten (BAG v. 1.12.2004, AP Nr. 15 zu § 1 TVG Versicherungsgewerbe; BAG v. 21.1.2003, NZA 2003, 1056; BAG v. 3.6.1998, DB 1999, 102; Wiedemann/Wank, TVG, § 4 Rn 508). Hieran kann sich auch nach Inkrafttreten der AGB-Kontrollvorschriften nichts ändern. Wird in AGB eine Zulage unter dem Vorbehalt der Anrechnung gewährt, ohne dass die Anrechnungsgründe näher bestimmt sind, führt dies nicht zur Unwirksamkeit nach § 308 Nr. 4 BGB. Eine unangemessene Benachteiligung gem. § 307 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 307 Abs. 3 S. 2 BGB liegt auch nicht vor, weil die Anrechnung mit der Vereinbarung eines übertariflichen Lohnes hinreichend klar verbunden ist. Des Weiteren verlangt das Transparenzgebot nicht, alle gesetzlichen Folgen einer Vereinbarung ausdrücklich zu regeln. Ein verständiger Arbeitnehmer muss annehmen, dass der übertarifliche Teil des vereinbarten Bruttolohnes einem besonderen Zweck dient und deshalb von der Höhe des Tariflohnes abhängig ist (BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 540/05, NZA 2006, 688).

 

Rz. 911

Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn die Abrede zumindest konkludent mit einer besonderen Zwecksetzung versehen ist. Dies kann sich aus der Formulierung der Zulage, ihrem Zweck oder der bisherigen betrieblichen Übung ergeben. Heißt es da ausdrücklich bei der Zulage, dass sie auch zusätzlich zu den zukünftigen Tariflohnerhöhungen gewährt werde, so scheidet eine Anrechnung aus. Dies würde nur dann nicht gelten, wenn der Tarifvertrag seinerseits die Anrechnung ausdrücklich erlaubt (Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rn 285). Leistungserschwerniszulagen oder Sozialzulagen, ebenso Zulagen, die die Abwanderung eines Arbeitnehmers verhindern sollten, sind danach anrechnungs- und tariferhöhungsfest (BAG v. 10.12.1965 – 4 AZR 411/64, DB 1966, 544; BAG v. 4.6.1980, DB 1980, 2243; BAG v. 28.10.1987, NZA 1988, 425; BAG v. 11.8.1992, DB 1993, 46; BAG v. 22.9.1992, NZA 1993, 232). Kommt man zu einer solchen Zweckbestimmung bei der Leistungsgewährung, so ist dies als konkludentes Anrechnungsverbot auszulegen (BAG v. 23.3.1993 – 1 AZR 520/92, DB 1993, 1980).

 

Rz. 912

Selbstverständlich kann der Arbeitsvertrag ausdrücklich die Anrechnung vorsehen. Ein Anrechnungsvorbehalt unterliegt dann der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle, soweit er sich auf Leistungen bezieht, mit denen der Arbeitgeber besondere Leistungszwecke verfolgt. Andernfalls handelt es sich um eine kontrollfreie Bruttolohnabrede (BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, BB 2006, 1282, 1284). Rechtsgrundlage der Inhaltskontrolle ist § 307 Abs. 1 S. 1 BGB. Mit dieser Vorschrift ist aber ein Anrechnungsvorbehalt vereinbar, weil er nämlich zu keiner Verringerung der Gesamtvergütung führt (BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, BB 2006, 1282, 1284). Auch sind die Anforderungen an das Transparenzgebot nicht zu überziehen. Die Formulierung "anrechenbare betriebliche Ausgleichszulagen" genügte dem BAG, um einen Verstoß gegen das Transparenzgebot zu verneinen (BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, BB 2006, 1282, 1284). Gleichfalls dem Transparenzgebot entsprechend ist davon auszugehen, dass eine Formulierung "Zulage zum augenblicklichen Tariflohn" auch zu einem Anrechnungsvorbehalt gedeutet werden kann (BAG v. 9.12.1997, NZA 1998, 661). Dagegen wäre allein der Hinweis auf "übertariflich" nicht dem Transparenzgebot entsprechend klar und verständlich. Allerdings ist eine Angabe der möglichen Anrechnungsgründe nicht erforderlich (BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, BB 2006, 1282, 1284; ErfK/Preis, §§ 305–310 BGB Rn 65).

 

Rz. 913

Kommt es zu einer Anrechnung, unterliegt diese auch keiner Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 1 BGB. Es bedarf nämlich, anders als beim Widerrufsvorbehalt, bei der Anrechnung einer übertariflichen Zulage keiner gesonderten Erklärung des Arbeitgebers, die auf ihre Billigkeit hin überprüft werden könnte. Der Arbeitgeber ist allenfalls an den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden (BAG v. 22.8.1979 – 5 AZR 769/77, DB 1980, 406; BAG v. 9.6.1982, NJW 1982, 2838).

 

Rz. 914

Die Frage, ob eine betriebliche Übung dahin gehend entstehen kann, dass der Arbeitgeber, der bei Tariflohnerhöhungen mehrfach die Zulage nicht angerechnet hat, auch in der Zukunft verpflichtet sein könnte, dies so zu handhaben, ist zu verneinen (BAG v. 19.7.1978 – 5 AZR 180/77, NJW 1979, 183; BAG v. 4.6.1980, DB 1980, 2243; BAG v. 3.3.1993, NZA 1993, 805; BAG v. 22.9.1992, NZA 1993,...

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