Rz. 695

Das BVerfG geht in mittlerweile konsolidierter Rspr. davon aus, dass sich der Arbeitnehmer beim Abschluss eines Arbeitsvertrages typischerweise in einer Situation struktureller Unterlegenheit befindet (BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212, 229; BVerfG v. 28.1.1992, BVerfGE 85, 191, 213; BVerfG v. 4.7.1995, BVerfGE 92, 365, 395). Das BAG hat demgemäß angenommen, dass ungeachtet der Bereichsausnahme des § 23 AGBG a.F. Arbeitsverträge der allgemeinen richterlichen Inhaltskontrolle unterliegen (BAG v. 9.9.2003, BAGE 107, 256). Es geht dabei auch um die Grundrechtsoptimierung zweier Vertragspartner im Arbeitsleben.

 

Rz. 696

Andererseits war die Einbeziehung der Kontrolle von Formulararbeitsverträgen in die allgemeinen Regelungen der §§ 305 ff. BGB nicht nur gefordert, sondern historisch überfällig. Auch die bisherige Praxis der Rspr. hat immer wieder deutlich gemacht, dass das Gesetzesrecht zum Schutze des Arbeitnehmers allein nicht in der Lage ist, eine angemessene Vertragsinhaltsfreiheit oder eine Vertragsdurchführung zu sichern (Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rn 31 f.). Die Praxis des Vertragsschlusses im Arbeitsleben verhindert i.d.R. eine Diskussion der vorformulierten Klauseln durch den Arbeitgeber (für die Bürgschaftsfälle bei Bankgeschäften hat dies die Rspr. klargestellt, BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, BVerfGE 89, 214 ff.). Bei einer wirtschaftlichen oder intellektuellen Übermacht des Arbeitgebers, insb. beim Einsatz von vorformulierten Vertragsklauseln versagt der auf einen angemessenen Interessenausgleich gerichtete Vertragsmechanismus; dies macht eine Korrektur durch eine AGB-Kontrolle verfassungsrechtlich möglich und notwendig.

 

Rz. 697

Auf der anderen Seite ist eine bedeutende Unterscheidung zu beachten. Eine Individualabrede geht AGB vor. Dieser Vorrang gilt trotz der fehlenden Verweisung in § 310 Abs. 3 Nr. 2 BGB auf § 305b BGB auch für vorformulierte Einmalbedingungen in Verbraucherverträgen wie dem Arbeitsvertrag. Individualabreden können grundsätzlich alle der vorgegebenen Vertragsbedingungen sein. Sie können ausdrücklich oder konkludent getroffen werden (BAG v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10; BAG v. 24.8. 2016 -5 AZR 129/16). Auch können sie auf mündlichen Erklärungen der Parteien beruhen. Welche Rechtsqualität und welchen Umfang atypische Erklärungen der Parteien haben, ist durch Auslegung zu ermitteln (BAG v. 21.6.2011 – 9 AZR 203/10; BAG v. 24.8.2016 – 5 AZR 129/16 -). Daraus ist für die Praxis die weitreichende Konsequenz zu ziehen: Die Bestimmungen des schriftlichen Arbeitsvertrages werden durch die Individualvereinbarung der Parteien verdrängt, soweit sie zu diesen in Widerspruch steht. Bei Individualvereinbarungen stellt sich der Ausgangspunkt allerdings anders dar. Eine generelle Inhaltskontrolle, die sich auch auf Individualvereinbarungen im Arbeitsrecht erstrecken würde, ist abzulehnen. Wenn von einem generellen Versagen des Vertragsprinzips beim Arbeitsvertrag nicht ausgegangen werden kann und wenn die Ausübung von Privatautonomie zur Fassung von präzisen Regelungen führt, so kann eine richterliche Kontrolle nicht an die Stelle des Willens der Parteien treten (Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rn 19).

 

Rz. 698

Die Grenzen einer Inhaltskontrolle von Individualvereinbarungen hat die Rspr. des BVerfG deutlich gemacht. Zu nennen ist hier vor allem die sog. Bürgschaftsentscheidung (BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, BVerfGE 89, 214 ff.). Diese spielt auch für die AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht eine entscheidende Rolle. Liegt nämlich eine Individualvereinbarung vor, findet eine richterliche Inhaltskontrolle nach den Grundsätzen dieser Entscheidung nur zum Schutz der Privatautonomie statt. Eine allgemeine Billigkeitskontrolle individuell ausgehandelter Vertragsbedingungen nach § 242 BGB findet nicht statt. Die §§ 305 ff. BGB stellen eine abschließende Konkretisierung des Gebotes von Treu und Glauben hinsichtlich einer allgemeinen, allein den Inhalt einer Regelung überprüfenden Angemessenheitskontrolle dar. Diese beruht auf dem Umstand, dass Vertragsbedingungen von einer Vertragspartei vorgegeben werden und von der anderen Partei nicht ausreichend geprüft und nicht verhandelt werden können. Sie bezieht sich nur auf Vertragsbedingungen, die von Rechtsvorschriften abweichen oder diese ergänzen, § 307 Abs. 3 S. 1 BGB (BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04).

 

Rz. 699

Danach kann der Gesetzgeber Grenzen der Vertragsfreiheit ziehen, er muss es allenfalls dann, wenn eine typisierbare Fallgestaltung besteht, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteiles erkennen lässt und die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend sind (BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, BVerfGE 89, 214, 229; BVerfG v. 23.11.2006, NJW 2007, 286). Wenn in einer solchen Situation der Gesetzgeber nicht eingreift, dann darf und muss es an seiner Stelle der staatliche Richter tun (BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04). Die Grundlage für dieses richterliche Ei...

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