a) Ausgangspunkt

 

Rz. 102

Zivilrechtlich wird das Pflichtteilsrecht fast immer, wenn es zur Anwendung kommt, als Ärgernis empfunden. Zahlreiche Vermeidungs- und Umgehungsstrategien werden hier diskutiert[153] und ausprobiert – teilweise mit zweifelhaftem Ausgang und gewissen damit verbundenen Unsicherheiten. Erbschaftsteuerlich ist die Situation hingegen anders. Selbstverständlich ist die unfreiwillige Auszahlung eines Pflichtteilsanspruchs für den Erben stets ein Ärgernis, das er regelmäßig zu vermeiden suchen wird. Der Umstand, dass der ausgezahlte Pflichtteilsanspruch erbschaftsteuerlich den Erwerb des Erben mindert und damit ggf. zu einer nachträglichen Minderung des Erbschaftsteuerbescheids führt, kann i.d.R. nur wenig Trost bringen.

 

Rz. 103

Anders ist dies jedoch in Fällen, in denen der Pflichtteil freiwillig zur erbschaftsteuerlichen Gestaltung[154] und Optimierung ausgezahlt wird. Dies mag das folgende Beispiel belegen:

 

Beispiel

Die Eltern E 1 und E 2 sind im gesetzlichen Güterstand verheiratet und haben ein klassisches Berliner Testament verfasst. Jeder von ihnen ist Inhaber eines Vermögens im Werte von 6 Mio. EUR Barvermögen. Sie haben zwei Kinder, nämlich K 1 und K 2. E 1 verstirbt und wird von E 2 allein beerbt. Die Überraschung über den Erbschaftsteuerbescheid ist groß. Sie wenden sich an ihren steuerlichen Berater und fragen um Rat.

 

Rz. 104

Das vorstehende Beispiel dokumentiert deutlich die Nachteiligkeit des Berliner Testaments gem. § 2069 BGB, wonach Ehegatten sich zunächst wechselseitig zu Alleinerben einsetzen und nach dem Ableben des Erstversterbenden die gemeinschaftlichen Kinder Schlusserben des länger Lebenden werden sollen. Vor derartigen reinen Berliner Testamenten wird mit Recht bereits seit längerem aus erbschaftsteuerlichen Gründen gewarnt.[155] Dieser Nachteil hat sich durch die Erbschaftsteuerreform 2008/2009 verschärft, weil eine Steuerentlastung weitgehend nur noch durch Freibeträge und nicht mehr durch privilegierte Bewertung erfolgt. Der größte Nachteil des Berliner Testaments besteht darin, dass beim Ableben des Erstversterbenden beider Elternteile die Freibeträge der Kinder gegenüber dem erstversterbenden Elternteil ungenutzt bleiben. Der Elternteil E 1 hätte gegenüber beiden Kindern jeweils einen Freibetrag i.H.v. 400.000 EUR. Diese werden nicht genutzt, sondern verfallen grundsätzlich. Gleichzeitig ist der Vermögenserwerb von Todes wegen durch den länger lebenden Ehegatten beim Berliner Testament wesentlich höher als bei Verteilung des Vermögens auf mehrere Köpfe. Im geschilderten Beispiel wird hierdurch der Ehegattenfreibetrag i.H.v. 500.000 EUR deutlich überschritten. Die Ehefrau hat den den Freibetrag überschießenden Teil der Erbschaftsteuer zu unterwerfen. Schließlich ist die Akkumulation des Gesamtvermögens von E 1 und E 2 beim länger lebenden Ehegatten E 2 im Todesfall des länger Lebenden nachteilig. In diesem Fall geht das Gesamtvermögen beider Ehegatten geschlossen "auf einen Schlag" auf die Kinder über. Wäre bereits vorab Vermögen nach dem Ableben des Erstversterbenden der Elternteile auf die Kinder übertragen worden, wäre auch die Erbschaftsteuerbelastung im Todesfall des länger Lebenden geringer.

 

Rz. 105

 

Praxishinweis

Das Berliner Testament entspricht zwar im Regelfall zivilrechtlich weitgehend den Vorstellungen der Beteiligten. Aus steuerlichen Gründen ist es in seiner Reinform schädlich und sollte daher in jedem Fall "verfeinert" werden, so dass bereits beim Ableben des Erstversterbenden beispielsweise wesentliche Vermögenswerte auf die Kinder übergehen.[156] Zur Absicherung des länger lebenden Ehegatten können ggf. Nießbrauchsvermächtnisse, Verfügungsverbote und/oder Testamentsvollstreckung angeordnet werden. Steuerlich lässt sich das Ziel auch durch ein Pflichtteilsvermächtnis erreichen (zu dessen Auswirkungen siehe Rdn 67 ff.).

 

Rz. 106

Grundsätzlich ist mit dem Eintritt des Todesfalls erbschaftsteuerlich das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Die Verfügung von Todes wegen hinsichtlich des vorverstorbenen Ehegatten lässt sich nicht mehr korrigieren oder ändern. Maßgeblicher erbschaftsteuerlicher Stichtag ist stets der Todestag. Nachträgliche Korrekturen sind grundsätzlich nicht mehr möglich. Die gezielte Einsetzung des Pflichtteilsrechts als nachträgliches erbschaftsteuerliches Korrekturmittel bildet da eine wesentliche Ausnahme.

 

Rz. 107

 

Praxishinweis

Die nachfolgenden Ausführungen zur gestalterischen Nutzung des Pflichtteilsrechts zur Vermeidung erbschaftsteuerlicher Nachteile sollten stets auch unter dem Blickwinkel des Zivilrechts betrachtet werden. Insoweit ist auf das Risiko hinzuweisen, dass bei Berliner Testamenten mit Pflichtteilsstrafklauseln bei ungenauer Abfassung Streit darüber entstehen kann, ob die freiwillige Erfüllung eines Pflichtteils durch den länger lebenden Ehegatten zur Enterbung des den Pflichtteil erhaltenden Kindes oder aller den Pflichtteil erhaltender Kinder führen kann.[157] M.E. hilft hier meist eine zweckmäßige Auslegung des Testamentes, bei der de...

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