Rz. 321

Nach § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht worden sind, zuzulassen, wenn dies nicht auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht. Haben sich die für die Geltendmachung der neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel bedeutsamen tatsächlichen Umstände erst nach dem Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung geändert, liegen sog. echte Noven vor. Solche nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz neu entstandene Angriffs- und Verteidigungsmittel können ohne die sich aus § 531 Abs. 2 ZPO ergebenden Beschränkungen jederzeit in das Berufungsverfahren eingeführt werden. Lagen die Tatsachen zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in erster Instanz bereits vor (sog. unechte Noven), waren sie der Partei aber unbekannt, sind sie auf erstmaligen Vortrag in der Berufungsbegründung zu berücksichtigen, wenn die Unkenntnis nicht auf Nachlässigkeit beruht.[489]

 

Rz. 322

Die Beurteilung der Nachlässigkeit erfordert eine Einzelfallbetrachtung. Im Ausgangspunkt soll auch § 531 Abs. 2 ZPO die Partei zu konzentrierter Verfahrensführung anhalten. Erforderlich ist daher ein Verstoß gegen die Prozessförderungspflicht.[490] Jede Partei ist grundsätzlich gehalten, schon im ersten Rechtszug die Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzubringen, deren Relevanz für den Rechtsstreit ihr bekannt ist oder bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt hätte bekannt sein müssen und zu deren Geltendmachung sie dort imstande ist.[491] Insbesondere darf Vorbringen grundsätzlich nicht aus prozesstaktischen Erwägungen zurückgehalten werden.[492] Es besteht aber keine Verpflichtung, tatsächliche Umstände, die nicht bekannt sind, zu ermitteln.[493] Sorgfaltsmaßstab ist dabei die einfache Fahrlässigkeit.[494]

 

Rz. 323

 

Beispiele

Der Arzt unterliegt erstinstanzlich in einem Arzthaftungsprozess. Er trägt in der Berufung vor, der von ihm vorgenommene Eingriff sei durch eine hypothetische Einwilligung des Patienten gedeckt gewesen. Dieser Vortrag ist verspätet. Denn die Behauptungs- und Darlegungslast bezüglich der Einwilligung trägt der Arzt. Wurde von ihm erstinstanzlich lediglich vorgetragen, der Patient habe nach ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt, umfasst dies nicht schon das für die hypothetische Einwilligung erforderliche Vorbringen.[495]
Der Verzicht auf die Parteivernehmung des Gegners begründet keine Nachlässigkeit nach § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO, wenn er zu einem Zeitpunkt erklärt worden ist, zu dem sich aus der Sicht des Erstgerichts eine Haftung des Gegners dem Grunde nach abzeichnet und es dies dem Beweisführer zu erkennen gibt. In einem solchen Fall besteht für den Beweisführer auch kein Anlass, den Antrag auf Parteivernehmung in der ersten Instanz erneut zu stellen. Der zweitinstanzliche Antrag ist zuzulassen.[496]
Der Kläger verfolgt einen Anspruch auf Rückabwicklung eines Kaufvertrags bei vereinbartem Ausschluss der Sachmängelhaftung. Er trägt zweitinstanzlich erstmals vor, der Beklagte habe bereits zuvor versucht, das veräußerte Grundstück an einen Dritten zu verkaufen, ohne diesen über einen ihm bekannten Sachmangel zu informieren. Hierfür bietet er Beweis durch Vernehmung des Dritten als Zeugen an. Der Entwurf des Kaufvertrags des Beklagten mit dem Dritten lag dem Kläger bereits erstinstanzlich vor. Nach dem BGH soll allein der Umstand, dass der Kläger deshalb bereits in erster Instanz auf den Gedanken hätte kommen können, sich bei dem Dritten nach den Einzelheiten der Vertragsverhandlungen zu erkundigen, die Zurückweisung des Vortrags als verspätet nicht rechtfertigen. Dies setze zusätzlich besondere Umstände voraus, die aus der objektivierten Sicht des Klägers solche Erkundigungen erforderten oder zumindest nahelegten.[497]
 

Rz. 324

Gerade bei technischen bzw. medizinischen Fachfragen lässt der BGH Zurückhaltung bei der Annahme von Nachlässigkeit walten. So kann in Arzthaftungssachen vom Patienten keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden, weshalb er sich auf den Vortrag beschränken darf, der die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Arztes aufgrund der Folgen für den Patienten gestattet. Die Partei ist insbesondere nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen.[498] Es kann daher nicht als Nachlässigkeit angesehen werden, wenn die Partei erst im zweiten Rechtszug ihren Angriff mit Hilfe eines Privatsachverständigen konkretisiert.[499] Auch der Arzt ist nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung spezielles medizinisches Fachwissen außerhalb seines Fachbereichs anzueignen.[500]

 

Rz. 325

 

Hinweis

Der Einfluss der gemäßigten Substantiierungspflicht auf den Begriff der Nachlässigkeit betrifft aber nur Vortrag zu fachspezifischen Fragen, der besondere Sachkunde erfordert, insbesondere also Vortrag zu medizinischen Vorgängen, bezüglich derer vom Patienten regelmäßig keine genaue Kenntnis erwartet werden kann. Die Frage nach dem V...

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