Leitsatz (amtlich)

a) Auch nach der Reform der Zivilprozessordnung dürfen beim Vortrag zu medizinischen Fragen im Arzthaftungsprozess an den Vortrag zu Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten ebenso wie an den klagebegründenden Sachvortrag nur maßvolle Anforderungen gestellt werden.

b) Der Patient und sein Prozessbevollmächtigter sind nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen.

c) Lässt das Berufungsgericht fehlerhaft Vorbringen nicht zu, weil es zu Unrecht dieses für neu hält oder Nachlässigkeit bejaht (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO), so kann es sich nicht auf die Bindung an die erstinstanzlich festgestellten Tatsachen berufen, wenn die Berücksichtigung des Vorbringens zu Zweifeln i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hätte führen müssen.

 

Normenkette

BGB § 823 Abs. 1; ZPO § 529 Abs. 1, § 531 Abs. 2 Nr. 3 Abs. 1

 

Verfahrensgang

OLG Köln (Urteil vom 11.06.2003; Aktenzeichen 5 U 216/02)

LG Aachen

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 5. Zivilsenats des OLG Köln v. 11.6.2003 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Klägerin macht gegen die Beklagte als Trägerin des Krankenhauses B. Schadensersatzansprüche geltend.

Im Dezember 1998 stürzte die Klägerin und zog sich einen Speichenbruch mit Abriss des Griffelfortsatzes der Elle zu. Der erlittene Trümmerbruch mit einer hauptsächlich streckseitig gelegenen Trümmerzone wurde im Krankenhaus der Beklagten operativ eingerichtet. Anschließend wurde die Reponierung mit zwei durch die Haut eingebrachten Kirschner-Drähten und einer Gipsschiene stabilisiert. Nach Entfernung der Drähte Anfang Februar 1999 klagte die Klägerin über Beschwerden im Bereich des rechten Handgelenks und über ein Taubheitsgefühl der Streckseite des rechten Daumens. Bei einer Untersuchung in der unfallchirurgischen Klinik R. wurde eine in Fehlstellung verheilte Radiusfraktur sowie eine Defektläsion des Daumenastes des Nervus radialis superficialis diagnostiziert.

Die Klägerin hat vor dem LG behauptet, die Ärzte des Krankenhauses B. hätten den Bruch fehlerhaft behandelt. Die unzureichende Stabilisierung habe zu einer Verheilung in Fehlstellung geführt. Auf ihre starken postoperativen Schmerzen sei nicht in angemessener Weise durch die Verordnung von Schmerzmitteln reagiert worden. Dies sei zur Prophylaxe eines Morbus Sudeck erforderlich gewesen. Bei Entfernung der Kirschner-Drähte sei es behandlungsfehlerhaft zu einer Durchtrennung des sensiblen Astes des Nervus radialis superficialis gekommen.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil in VersR 2004, 517 veröffentlicht ist, ist der Klage auf der Grundlage der in erster Instanz festgestellten Tatsachen der Erfolg zu versagen. Konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründeten und deshalb eine neue Feststellung gebieten würden, lägen nicht vor (§ 529 Abs. 1 ZPO).

Soweit die Klägerin weiterhin Behandlungsfehler bei der Durchführung der Spickdrahtosteosynthese rüge, bestehe keine Veranlassung zu einer weiteren Sachaufklärung. Der Sachverständige habe ausdrücklich hervorgehoben, die Einbringung der Drähte sei fehlerfrei erfolgt in Anwendung eines Verfahrens, welches dem Lehrbuchstandard entspreche und auch lehrbuchhaft durchgeführt worden sei. Die abweichende Auffassung der Klägerin, dass die Spickdrähte nicht korrekt angebracht worden seien, so dass eine ausreichende Stabilität nicht habe erzielt werden können, begründe keine durchgreifenden Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des Sachverständigen.

Keine i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO erheblichen Zweifel bestünden auch, soweit die Klägerin es als behandlungsfehlerhaft ansehe, dass die Enden der Drähte unter der Haut versenkt worden seien. Auch hierzu habe der Sachverständige festgestellt, die Einbringung der beiden Bohrdrähte sei regelgerecht erfolgt. Es stehe auch nicht fest, dass die Nervverletzung vermeidbar fehlerhaft von den behandelnden Ärzten verursacht worden sei. Der Sachverständige habe dargelegt, trotz größtmöglicher Sorgfalt habe es zu einer Durchtrennung bzw. Quetschung von kleinen Hautnerven kommen können.

Mit ihrem erstmals in zweiter Instanz erfolgten Vorbringen, die Spick-drahtosteosynthese sei nicht die Methode der Wahl gewesen, könne die Klägerin ebenso wenig durchdringen wie mit der gleichfalls neuen Behauptung, der Morbus Sudeck sei nicht adäquat bzw. überhaupt nicht behandelt worden. Auch bei der dargelegten Behandlungsalternative mit einem Fixateur externe handele es sich um eine Tatsachenbehauptung und nicht - wie die Klägerin meine - um die Darlegung eines von Amts wegen zu berücksichtigenden medizinischen Erfahrungssatzes. Beide Tatsachenbehauptungen fielen unter die Bestimmungen der §§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 ZPO. Sie stellten neue Angriffsmittel i.S.v. § 531 ZPO dar und seien nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen der hier nur in Betracht kommenden Bestimmungen des § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und Nr. 3 ZPO nicht dargetan seien. Dem LG sei kein Verfahrensfehler i.S.v. § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO unterlaufen. Es sei auf der Grundlage des erstinstanzlichen Vorbringens zu einer weiteren Sachaufklärung nicht gehalten gewesen. Die schriftliche Begutachtung sei eindeutig gewesen; die von der Klägerin erstinstanzlich für klärungsbedürftig gehaltenen Fragen habe der Sachverständige bei seiner mündlichen Anhörung beantwortet. Sei das Vorbringen somit als neuer Sachvortrag nach § 531 Abs. 2 ZPO nicht zuzulassen, scheide eine weitere Sachaufklärung nach § 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO aus. Der neue Sachvortrag könne aus Rechtsgründen auch nicht geeignet sein, Zweifel an der Richtigkeit der bisherigen Feststellungen des Sachverständigen i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu begründen; anderenfalls würden die Präklusionsregeln und das Reformziel, den Rechtsstreit möglichst im ersten Rechtszug umfassend aufzuklären, unterlaufen.

Die Klägerin habe nicht dargetan, dass sie den neuen Vortrag ohne Nachlässigkeit nicht bereits im ersten Rechtszug hätte in den Rechtsstreit einführen können (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO). Sie sei gehalten gewesen, jede in Betracht kommende Möglichkeit zu nutzen, Einwendungen gegen die in erster Instanz vorgelegte Begutachtung ausfindig zu machen. Sie habe auch nicht vorgetragen, dass sie bzw. ihr Prozessbevollmächtigter sich nicht in gleicher Weise hätten informieren können wie der Prozessbevollmächtigte in der zweiten Instanz.

Fehl gehe auch der Vorwurf, der entstandene Morbus Sudeck sei nicht adäquat behandelt worden. Eine unzureichende Sudeck-Prophylaxe sei nicht erwiesen.

II.

Das angefochtene Urteil hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

1. a) Nicht zu beanstanden ist das Berufungsurteil allerdings, soweit es keine Notwendigkeit für eine weitere Sachverhaltsaufklärung hinsichtlich eines Behandlungsfehlers bei der Durchführung der Spickdrahtosteosynthese und bei der Prophylaxe für einen Morbus Sudeck sieht und diesbezüglich Behandlungsfehler auf der Grundlage der erstinstanzlichen Feststellungen verneint. Die Revision macht hierzu nur geltend, das Berufungsgericht sei dem Einwand der Klägerin nicht nachgegangen, die Schädigung des Nervs bei Entfernung der Kirschner-Drähte wäre vermieden worden, wenn deren Enden nicht zuvor unter die Haut versenkt worden wären. Indessen hält die Auffassung des Berufungsgerichts, aus dem Vorbringen der Klägerin ergäben sich keine Zweifel i.S.v. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, die eine neue Tatsachenfeststellung erforderten, in diesem Punkt revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.

aa) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung des Berufungsgerichts an die vorinstanzlichen Feststellungen entfallen lassen, können sich aus Fehlern ergeben, die dem Eingangsgericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind (vgl. BGH, Urt. v. 8.6.2004 - VI ZR 230/03; Urt. v. 12.3.2004 - V ZR 257/03, BGHReport 2004, 833 = WM 2004, 845 [846]; Begründung zum RegE eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, 100; Rimmelspacher, NJW 2002, 1897 [1901]; Stackmann, NJW 2003, 169 [171]). Zweifel im Sinne dieser Vorschrift liegen schon dann vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt (vgl. BGH, Urt. v. 15.7.2003 - VI ZR 361/02, MDR 2003, 1414 = BGHReport 2004, 17 = NJW 2003, 3480 [3481]; Begründung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, 124). Dies gilt grundsätzlich auch für Tatsachenfeststellungen, die auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens getroffen worden sind. In diesem Fall kann u.a. die - hier von der Revisionsklägerin gerügte - Unvollständigkeit des Gutachtens Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Feststellungen wecken (vgl. BGH, Urt. v. 15.7.2003 - VI ZR 361/02, MDR 2003, 1414 = BGHReport 2004, 17 = NJW 2003, 3480 [3481]; Musielak/Ball, ZPO, 3. Aufl., § 529 Rz. 18; Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 24. Aufl., § 529 Rz. 9).

bb) Gegen die Ausführungen des Berufungsgerichts, mit denen es die Notwendigkeit einer neuen Tatsachenfeststellung insoweit verneint, sind keine durchgreifenden Revisionsrügen vorgebracht. Das Berufungsgericht hat im Hinblick darauf, dass der Sachverständige ausführlich dazu Stellung genommen hat, ob bei Durchführung der hier angewandten Spickdrahtosteosynthese Behandlungsfehler vorlagen, und er dies verneint hat, ausgeführt, dass es keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen hat, die hinsichtlich dieses Komplexes eine erneute Feststellung geböten. Hiergegen ist von Seiten des Revisionsgerichts nichts zu erinnern.

b) Das Berufungsurteil hält auch dem Angriff der Revision stand, soweit das Berufungsgericht das Vorbringen der Klägerin zu einer unterlassenen Behandlung des Morbus Sudeck als neues Vorbringen nicht zugelassen hat.

Der diesbezügliche Vortrag der Klägerin wurde zutreffend als neu i.S.d. § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO angesehen. Entgegen der Auffassung der Revision schließt nämlich der erstinstanzliche Sachvortrag der Klägerin nicht die Frage ein, ob ein Behandlungsfehler im Zusammenhang mit der Behandlung des entstandenen Morbus Sudeck vorliegt. Der von ihr in Bezug genommene und aus den Feststellungen des Berufungsgerichts ersichtliche erstinstanzliche Vortrag der Klägerin befasste sich nämlich allein mit dessen Prophylaxe und nicht mit einer angeblich unterlassenen Behandlung. Die Behauptungen, den Ausbruch einer Krankheit nicht verhindert und eine ausgebrochene Krankheit nicht behandelt zu haben, betreffen indes zwei unterschiedliche zeitliche Abschnitte des Behandlungsverlaufs. Mit dem zweitinstanzlich erhobenen Vorwurf wird die Behauptung fehlerhafter Prophylaxe demgemäß nicht lediglich konkretisiert, sondern der Angriff der Klägerin geändert.

Das Berufungsgericht hat dieses neue Vorbringen auch zu Recht nicht zugelassen, weil nicht dargetan ist, dass die Klägerin es nicht bereits im ersten Rechtzug hätte in den Rechtsstreit einführen können. Anders als bei einer vorzugswürdigen Behandlungsalternative (vgl. dazu unter 2.) geht es hier nämlich zunächst nicht um eine medizinische Frage, sondern darum, auch diesen Abschnitt des gesamten Behandlungsverlaufs zur Überprüfung durch das Gericht zu stellen. Dazu waren keine medizinischen Fachkenntnisse erforderlich. Die Klägerin wusste vielmehr aus eigenem Erleben, ob eine Behandlung des Morbus Sudeck erfolgt war, und konnte die von ihr jetzt behauptete Unterlassung der Behandlung deshalb zum Gegenstand der gerichtlichen und sachverständigen Überprüfung machen, ohne auf vertiefte medizinische Kenntnisse angewiesen zu sein. Indem sie dies im ersten Rechtszug nicht getan hat, hat sie gegen die ihr obliegenden Sorgfaltspflichten verstoßen.

2. Das Berufungsurteil hält jedoch den Angriffen der Revision nicht stand, soweit das Berufungsgericht das Vorbringen der Klägerin zu einer Behandlungsalternative als neues Vorbringen nicht zugelassen hat (§ 531 Abs. 2 ZPO) und deshalb nicht zu Zweifeln i.S.d. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gelangt ist.

a) Das Vorbringen der Klägerin zu einer Behandlungsalternative ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bereits nicht als neu i.S.d. § 531 Abs. 2 ZPO zu werten.

aa) Die Revision macht geltend, der Vortrag fehlerhafter Behandlung, insbes. auch durch Erzielung einer unzureichenden Stabilität und Drehstabilität, schließe den Vorwurf mit ein, im Hinblick auf die ausgedehnte Trümmerzone sei seitens der Ärzte mit der Spickdrahtosteosynthese eine Behandlungsmethode gewählt worden, die wesentlich weniger geeignet gewesen sei als eine Behandlung mittels eines Fixateur externe. Der gerichtliche Sachverständige hätte sich deshalb bereits in erster Instanz mit der Frage einer besser geeigneten Methode und damit einer Behandlungsalternative befassen müssen. Dem ist unter den Umständen des Streitfalls zuzustimmen.

bb) Der Begriff der neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel ist nach dem bisherigen Recht auszulegen (Meyer-Seitz in Hannich/Meyer-Seitz, ZPO-Reform, 2002, § 531 Rz. 8). Ob ein in zweiter Instanz konkretisiertes Vorbringen neu ist, hängt also davon ab, wie allgemein es in erster Instanz gehalten war. Wenn es einen sehr allgemein gehaltenen Vortrag der ersten Instanz konkretisiert oder erstmals substanziiert, ist es neu, nicht aber dann, wenn ein bereits schlüssiges Vorbringen aus der ersten Instanz durch weitere Tatsachenbehauptungen zusätzlich konkretisiert, verdeutlicht oder erläutert wird (vgl. BGH, Urt. v. 5.6.1991 - VIII ZR 129/90, NJW-RR 1991, 1214 [1215]; v. 26.6.2003 - VII ZR 281/02, MDR 2003, 1286 = BGHReport 2003, 1103 = NJW-RR 2003, 1321 [1322]; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 62. Aufl., § 531 Rz. 12; Drossart, Bauprozessrecht, 2004, 4 [6]).

Zwar enthielt der erstinstanzliche Vortrag der Klägerin nicht ausdrücklich den Vortrag einer besseren Behandlungsalternative durch einen Fixateur externe. Bei der Beurteilung, ob ein neuer Vortrag vorliegt, ist aber zu berücksichtigen, dass an die Substanziierungspflicht der Partei im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen gestellt werden dürfen, weil vom Patienten regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann. Die Partei darf sich auf Vortrag beschränken, der die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Arztes auf Grund der Folgen für den Patienten gestattet (vgl. BGH, Urt. v. 19.5.1981 - VI ZR 220/79, VersR 1981, 752; v. 10.11.1981 - VI ZR 92/80, VersR 1982, 168 [169]; v. 15.7.2003 - VI ZR 203/02, BGHReport 2003, 1401 = GesR 2003, 387 = MDR 2004, 32 = VersR 2003, 1541 [1542]; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., E Rz. 2). Der Vortrag, es habe eine bessere Behandlungsmethode, also eine echte und indizierte Behandlungsalternative gegeben, stellt im Streitfall unter Berücksichtigung dieser Darlegungserleichterungen im Arzthaftungsprozess lediglich eine weitere Verdeutlichung des schlüssigen Vorbringens einer fehlerhaften Behandlung des Bruchs dar, der nicht ausreichend stabilisiert worden sei.

b) Im übrigen hätte das Berufungsgericht das Vorbringen zur Behandlungsalternative selbst dann berücksichtigen müssen, wenn es - entgegen den obigen Darlegungen - neu gewesen wäre. Bei der Beurteilung, ob der Klägerin Nachlässigkeit i.S.d. § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO vorzuwerfen ist, hat das Berufungsgericht zu hohe Anforderungen an die Informations- und Substanziierungspflicht der Partei im Arzthaftungsprozess gestellt.

Das Berufungsgericht hat das von ihm als neu angesehene Vorbringen nicht zugelassen, weil die Klägerin nicht dargetan habe, dass sie den neuen Vortrag ohne Nachlässigkeit nicht bereits im ersten Rechtszug hätte in den Rechtsstreit einführen können. Das rügt die Revision mit Erfolg. Die in der Revisionsinstanz zulässige Prüfung, ob § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO richtig angewendet worden ist (vgl. Meyer-Seitz in Hannich/Meyer-Seitz, ZPO-Reform, 2002, § 531 Rz. 26; Rimmelspacher in MünchKomm/ZPO, Aktualisierungsbd., § 531 Rz. 35; § 530 Rz. 34; Musielak/Ball, ZPO, 3. Aufl., § 531 Rz. 22 ff.; Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 24. Aufl., § 531 Rz. 37), führt zu dem Ergebnis, dass die unterlassene Geltendmachung im ersten Rechtszug nicht auf einer Nachlässigkeit der Klägerin beruhte.

Jede Partei ist zwar grundsätzlich gehalten, schon im ersten Rechtszug die Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzubringen, deren Relevanz für den Rechtsstreit ihr bekannt ist oder bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt hätte bekannt sein müssen und zu deren Geltendmachung sie dort im Stande ist. Sorgfaltsmaßstab ist dabei die einfache Fahrlässigkeit (vgl. OLG Saarbrücken v. 25.9.2002 - 1 U 273/02-65, OLGReport Saarbrücken 2002, 453 = NJW-RR 2003, 139 [140]; v. 26.3.2003 - 1 U 740/02-179, OLGReport Saarbrücken 2003, 249 [250]; KG v. 12.9.2002 - 8 U 78/02, MDR 2003, 471 [472] = KGReport Berlin 2003, 13; Rimmelspacher in MünchKomm/ZPO, Aktualisierungsbd., § 531 Rz. 28; Musielak/Ball, ZPO, 3. Aufl."§ 531 Rz. 19; Rimmelspacher, NJW 2002, 1897 [1904]; Gehrlein, MDR 2003, 421 [428]; BT-Drucks. 14/4722, 101 f.).

Auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze überspannt das Berufungsgericht indes die Anforderungen an die Informations- und Substanziierungspflicht einer klagenden Partei im Arzthaftungsprozess.

Der oben dargelegte Grundsatz, dass in einem Arzthaftungsprozess an die Substanziierungspflicht des Klägers nur maßvolle Anforderungen gestellt werden dürfen, gilt nämlich auch für Einwendungen gegen ein gerichtliches Gutachten. Die Partei ist nicht verpflichtet, bereits in erster Instanz ihre Einwendungen gegen das Gerichtsgutachten auf die Beifügung eines Privatgutachtens oder auf sachverständigen Rat zu stützen oder - wie das Berufungsgericht meint - selbst oder durch Dritte in medizinischen Bibliotheken Recherchen anzustellen, um Einwendungen gegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten zu formulieren. Sie ist durchaus berechtigt, ihre Einwendungen zunächst ohne solche Hilfe vorzubringen (vgl. BGH, Urt. v. 19.5.1981 - VI ZR 220/79, VersR 1981, 752; v. 10.11.1981 - VI ZR 92/80, VersR 1982, 168; Urt. v. 19.2.2003 - IV ZR 321/02, MDR 2003, 766 = BGHReport 2003, 633 = VersR 2004, 83 [84]). Das Gesetz zur Reform der Zivilprozessordnung hat an diesen Grundsätzen nichts geändert, weil der dafür maßgebende Gesichtspunkt, die Waffengleichheit zwischen Arzt und Patienten zu gewährleisten, weiter gilt.

Die Klägerin hat in erster Instanz das gerichtliche Gutachten nicht hingenommen, sondern mit substantiierten Ausführungen in Frage gestellt. Bei dieser Sachlage kann es nicht als Nachlässigkeit angesehen werden, wenn sie in zweiter Instanz ihren Angriff konkretisiert hat, nachdem ihr zweitinstanzlicher Prozessbevollmächtigter durch eigene medizinische Recherchen zusätzliche Informationen über die Behandlung eines Trümmerbruchs erlangte. Dass sich die Klägerin bereits erstinstanzlich durch zwei Fachärzte hat beraten lassen und hierbei möglicherweise nicht vollständig informiert wurde, geht nicht zu ihren Lasten. Der Patient und sein Prozessbevollmächtigter sind nämlich nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Im konkreten Fall hätte überdies auch für das erstinstanzliche Gericht Veranlassung bestanden, den Sachverständigen nach einer Behandlungsalternative zu befragen, nachdem dieser ausgeführt hatte, nach Angaben in der Fachliteratur komme es erfahrungsgemäß bei dem angewandten Spickdraht-osteosyntheseverfahren bei einem Bruch wie dem vorliegenden in etwa 20 % der Fälle zu einem Korrekturverlust. Unter diesen Umständen war mit dem Sachverständigen zu erörtern, wie die Praxis dieses beträchtliche Risiko zu vermeiden oder zu verringern suchte.

c) Bei der mithin gebotenen Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin zur Behandlungsalternative mussten sich für das Berufungsgericht konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ergeben, die eine erneute Tatsachenfeststellung geboten. Hier hat die Klägerin nämlich nach den von ihrem zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten durchgeführten Recherchen in der Berufungsbegründung ausführlich und substanziiert vorgetragen und durch Nachweise aus der medizinischen Fachliteratur belegt, dass ihrer Ansicht nach eine vorzugswürdige Behandlungsmethode hätte angewendet werden müssen.

III.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Berücksichtigung des übergangenen Vortrags zum Bestehen einer Behandlungsalternative auf die Beurteilung des Rechtsstreits ausgewirkt hätte. Deshalb war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zur Nachholung der gebotenen Feststellungen zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1202676

BGHZ 2005, 245

NJW 2004, 2825

BGHR 2004, 1378

ZAP 2004, 1087

ArztR 2005, 192

MDR 2004, 1184

MedR 2005, 37

NZV 2004, 510

VersR 2004, 1177

BrBp 2004, 518

IVH 2004, 212

ProzRB 2005, 17

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