Rz. 210

Bei der Frage, ob ein Beruf der bisherigen Lebensstellung des Versicherten entspricht, kommt es neben den Verdienstmöglichkeiten auch auf die soziale Wertschätzung an, die dem Beruf in der Gesellschaft entgegengebracht wird.

Die soziale Wertschätzung ist von vielfältigen Faktoren abhängig, insbesondere davon, welche Ausbildung für eine bestimmte Tätigkeit erforderlich ist, welche Kenntnisse und Fähigkeiten ein Beruf erfordert, welche Verdienst-, Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten gegeben sind, und inwieweit der Versicherte in der Planung und Gestaltung seiner Arbeit Freiräume besitzt oder kreativ bzw. selbstständig handeln kann.[464] Im Einzelfall ist auch das konkrete soziale Umfeld zu beachten. So kann im ländlichen Bereich die Wertschätzung für bestimmte Tätigkeiten anders zu beurteilen sein, als in der Stadt.[465] Zur Frage der sozialen Wertschätzung mit den hierfür relevanten Einzelaspekten ist im Prozess auf entsprechenden Vortrag und Beweisantritt ein berufskundliches Gutachten einzuholen.

 

Rz. 211

Bei einer "Verrechnung" von Vor- und Nachteilen der Tätigkeit in gesunden Tagen und der Verweisungstätigkeit ist Vorsicht geboten. Erforderte der vormalige Beruf eine höhere Qualifikation und hatte mehr gesellschaftliche Wertschätzung, so wird dies regelmäßig nicht durch eine kürzere Arbeitszeit und ein höheres Entgelt sowie eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung im neuen Beruf ausgeglichen. Qualifikation und Wertschätzung sind keine Faktoren, die allein durch Geld und Freizeit ausgeglichen werden können, da es keinen Regelsatz dahingehend gibt, dass allgemein ein Beruf bevorzugt wird, der höchsten Lohn und geringste Arbeitszeit verspricht.[466]

 

Beispiele

Ein gelernter Zimmergeselle muss sich nicht auf eine Anlerntätigkeiten als Berufskraftfahrer oder Lagerist verweisen lassen.[467]
Eine kürzere Arbeitszeit bei der (wieder-)aufgenommenen Tätigkeit als Justizsekretär stellt für einen berufsunfähigen Gerichtsvollzieher keinen Vorteil dar, der eine Einkommenseinbuße und die geringere soziale Wertschätzung gegenüber dem bisherigen Beruf auszugleichen vermag.[468]
War der Versicherte früher im öffentlichen Dienst tätig, so ist die Aufnahme einer Angestelltentätigkeit ohne die Absicherungen des öffentlichen Dienstes nicht generell unzumutbar.[469]
Handwerker, die eine 3-jährige Ausbildung benötigen, genießen in der Gesellschaft generell ein höheres Ansehen, als angelernte Hilfskräfte.[470]
Wird eine Tätigkeit überwiegend durch leistungsgeminderte Beschäftigte ausgeübt (hier als Recyclinghofarbeiter), um diesen eine leidensgerechte Arbeitsaufgabe zuweisen zu können, führt dies dazu, dass die soziale Wertschätzung innerbetrieblich nicht der eines voll leistungsfähigen Kraftfahrers entspricht. Auch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit hat ein Fahrer eines großen Entsorgungs-Lkw im städtischen Straßenverkehr ein höheres Ansehen, als ein Recyclinghofmitarbeiter, der eher als untergeordnete Hilfskraft wahrgenommen wird.[471]
Die Tätigkeit eines Firmenkundenbetreuers in einer Großbank ist nicht mit der eines kaufmännischen Leiters eines Unternehmens mit Gesamtprokura vergleichbar, da sie nicht zwingend ein abgeschlossenes Hochschulstudium voraus setzt; es genügt eine abgeschlossene Ausbildung im Finanzbereich, auch gibt es keine Leitungsfunktion bzw. Führungsverantwortung. Die Tätigkeit als Leiter eines bestimmten Unternehmensbereichs erforderte hingegen eine unternehmerisch gestaltende Persönlichkeit, von der neben umfassenden betriebswirtschaftlichen Kenntnissen auch strategische Impulse für die Ausrichtung des Unternehmens erwartet werden.[472]
Die Tätigkeit eines stellvertretenden Werkstattleiters und eines Expedienten sind miteinander vergleichbar, da beide mit Weisungsbefugnissen ausgestattet sind. Es ist dabei unerheblich, ob andere Mitarbeiter auch entsprechende Befugnisse haben, da dies durch die Weisungsbefugnis gegenüber dem gesamten Verladepersonal – und nicht nur gegenüber der beschränkten Zahl von Werkstattmitarbeitern – ausgeglichen wird.[473]
[464] OLG Karlsruhe VersR 2012, 1419; BGH VersR 1990, 885; BGH r+s 1997, 260; OLG Hamm r+s 2000, 523.
[465] Vgl. LG Coburg, Versicherung und Recht kompakt 2009, 210.
[466] OLG Karlsruhe VersR 2013, 747.
[467] OLG Braunschweig VersR 2000, 620; vgl. auch OLG Hamm VersR 2001, 1411.
[468] OLG München r+s 2003, 166; OLG Frankfurt r+s 2011, 487.
[469] LG Aurich, Versicherung und Recht kompakt 2011, 133.
[470] OLG Karlsruhe VersR 2012, 1419.
[471] KG Berlin, Beschl. v. 30.10. 2012 – 6 U 81/11.
[472] LG Mannheim, Urt. v. 11.10.2012 – 10 O 45/11.

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