1. Rückwirkung für die seit 29.5.2009 eingetretenen Erbfälle

 

Rz. 37

Das Reformgesetz[54] geht davon aus, dass ab dem Tag nach der Verkündung des Urteils des EGMR vom 28.5.2009, also ab dem 29.5.2009, kein Vertrauensschutz für die alte Rechtslage mehr besteht. Deshalb wurde für alle Erbfälle, die seit dem 29.5.2009 eingetreten sind und in Zukunft noch eintreten werden, die Zeitgrenze 1.7.1949 des Art. 12 § 10 Abs. 2 NEhelG aufgehoben, Art. 5 S. 2 Zweites ErbRGleichG. Nunmehr haben bei Eintritt des Erbfalls ab 29.5.2009 die vor dem 1.7.1949 geborenen Kinder uneingeschränktes gesetzliches Erb- und Pflichtteilsrecht am Vater und den väterlichen Verwandten (Erste Erbenordnung gem. §§ 1924, 2303, 2309 BGB). Umgekehrt haben der Vater und die väterlichen Verwandten gesetzliches Erbrecht am nichtehelichen Kind als Verwandte der zweiten Ordnung (§ 1925 BGB), der Vater ist auch pflichtteilsberechtigt (§ 2303 BGB). Weil damit für diese Fälle keine ungleichen gesetzlichen Regelungen in Deutschland mehr gelten, wurde auch Art. 235 § 1 Abs. 2 EGBGB aufgehoben. Die Möglichkeit des Abschlusses eines Erbrechtsgleichstellungsvertrages zwischen Vater und nichtehelichem Kind wurde ebenfalls beseitigt; Art. 12 § 10a NEhelG wurde ebenfalls aufgehoben.

[54] BGBl I 2011, 615.

2. Vor dem 29.5.2009 eingetretene Erbfälle

 

Rz. 38

Für die vor dem Bekanntwerden des EGMR-Urteils, also vor dem 29.5.2009 eingetretenen Erbfälle verbleibt es bei der bisherigen Gesetzeslage, d.h. die Zeitgrenze 1.7.1949 bleibt bestehen, Art. 12 § 10 Abs. 1 NEhelG in der Fassung des Zweiten ErbRGleichG. Durch die Neuregelung dürften die statistisch häufigsten Fälle zugunsten einer Gleichbehandlung mit ehelichen Kindern erfasst sein, wenn man die statistische Lebenserwartung der nichtehelichen Väter in die Betrachtung mit einbezieht.

 

Rz. 39

Für die vor dem 29.5.2009 eingetretenen Erbfälle greift lt. nunmehriger Rechtsprechung des BGH die deutsche gesetzliche Regelung in einer EMRK-konformen Auslegung. Insbesondere ist Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) i.V.m. Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK (Eigentumsschutz) zu beachten. Es ist zwar streitig, ob und ggf. wie weit durch eine teleologische Auslegung der Norm eine Konformität mit den genannten EMRK-Regeln hergestellt werden kann,[55] der BGH hat diese Frage jedoch klar zugunsten einer sehr weitgehenden Auslegung zugunsten der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR bejaht (vgl. Rdn 34).

 

Rz. 40

Mit den Entscheidungen des EGMR in Sachen Wolter und Sarfert gegen Deutschland wird deutlich, dass diese weitgehende teleologische Auslegung im Regelfall nur dazu führen kann, dass von wesentlichen gesetzlichen Inhalten des NEhelG, insbesondere betreffend dem Geburtsdatum und dem Erfordernis des Bestehens eines lebzeitigen Familienlebens im Einzelfall nicht festgehalten werden darf.

 

Hinweis

Mit den Entscheidungen vom 23.3.2017 wurde die Entscheidung des EGMR vom 29.5.2009 in zwei wesentlichen Punkten zugunsten der vor dem 1.9.1949 geborenen nichtehelichen Kinder erweitert:

1. Das Erfordernis eines "Familienlebens" zwischen Kind und Vater wurde fallen gelassen.

2. Auch in Fällen, die nach geänderter deutscher Gesetzesregelung zu einem Ausschluss der Rechte für das Kind führen, kann ein Verstoß gegen die EMRK vorliegen.

[55] Umstr., dafür mit Darstellung des Streitstands Leipold, ZEV 2017, 510.

3. Abgeschlossene Erbscheinsverfahren in den seit 29.5.2009 eingetretenen Erbfällen

 

Rz. 41

Ein bereits erteilter Erbschein erwächst weder in formelle noch in materielle Rechtskraft, was unmittelbar aus § 2361 BGB, § 353 FamFG folgt, wonach ein Erbschein einzuziehen bzw. für kraftlos zu erklären ist, wenn sich ergibt, dass er unrichtig ist. Allerdings ist das Erbscheinseinziehungsverfahren bzw. die Kraftloserklärung vom Nachlassgericht nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag durchzuführen, Art. 12 § 24 Abs. 1 NEhelG in der Fassung des Zweiten ErbRGleichG. Es erscheint sachgerecht, in diesen Fällen ein Antragserfordernis vorzusehen. Die Nachlassgerichte wären andernfalls verpflichtet gewesen, von Amts wegen nach entsprechenden bereits abgeschlossenen Verfahren zu "fahnden", was auch unter Amtshaftungsgesichtspunkten nicht unproblematisch gewesen wäre. Den Betroffenen ist zuzumuten, sich selbst um ihr Erbrecht zu kümmern.

Allerdings gilt dies nur für die bis 15.4.2011, dem Tag der Verkündung des Reformgesetzes, in den genannten Fällen erteilten Erbscheine. Danach erteilte unrichtige Erbscheine sind nach der allgemeinen Regel des § 2361 BGB von Amts wegen einzuziehen.[56]

 

Rz. 42

 

Hinweis

Weder für das durch die gesetzliche Neuregelung erforderlich werdende Erbscheinseinziehungsverfahren noch für das Erbscheins-Neuerteilungsverfahren werden Gerichtskosten beim Nachlassgericht erhoben, Art. 12 § 24 Abs. 2 NEhelG in der Fassung des Zweiten ErbRGleichG. Allerdings entstehen Kosten für eine im Neuerteilungsverfahren nach § 352 Abs. 3 FamFG vor einem Notar abzugebende eidesstattliche Versicherung, § 103 GNotKG KV Nr. 23300 (1,0 Gebühr). Deshalb ist zu empfehlen, die eidesstattliche Versicherung nicht vor einem Notar, sondern vor dem Nachlassgericht abzugeben. Denn die Gebührenfreiheit beim Nachlassgericht dürfte sich auch auf diese Gebüh...

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