Rz. 49

Will der Verteidiger mangels umfassender Akteneinsicht nun "Honig aus der Beschränkung der Verteidigung saugen", muss er folgendermaßen prozessual handeln.

Der EGMR betont in ständiger Rechtsprechung, dass sich aus dem als elementarer Teil eines fairen Verfahrens i.S.d. Art. 6 Abs. 1 EMRK anzusprechenden Grundsatz der Waffengleichheit nicht nur ein "fundamentales Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren im Strafprozess" herleitet,[54] sondern zugleich "that the prosecution authorities disclose to the defence all material evidence for or against the accused and that the failure to do so in the present case gave rise to a defect in the trial proceedings",[55] dass also gewährleistet sein muss, dass "jede Partei eine vernünftige Gelegenheit haben muss, ihren Fall unter Bedingungen zu präsentieren, die sie in keine nachteilige Position gegenüber dem Gegner verbringt".[56]

Im behördlichen Verfahren kann er die gerichtliche Entscheidung erzwingen, um sich Akteneinsicht zu verschaffen – ob dies aus taktischen Gründen aber geboten ist, darf bezweifelt werden, weil die Versagung durch das Gericht mit der Beschwerde auch nicht weiter angreifbar ist (§ 46 OWiG i.V.m. § 305 StPO).

Vielmehr muss die Verfahrensrüge bei der Versagung als Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Grundsatzes des fairen Verfahrens vorbereitet werden. Dabei muss an die Zulassungsgründe nach §§ 79, 80 OWiG gedacht werden.

 

Rz. 50

Allerdings steht neuerdings die Hürde noch ein wenig höher als zuvor: Denn das OLG Braunschweig hat mit seinem Beschl. v. 12.5.2014 – Ss (Owi) 34/14 – die Voraussetzungen für den Rügevortrag weiter erhöht:

Wird einem Betroffenen vom Tatrichter die Einsicht in die Bedienungsanleitung eines Geschwindigkeitsmessgeräts versagt, ist im Rechtsbeschwerdeverfahren regelmäßig vorzutragen, welche Tatsachen sich aus der Bedienungsanleitung hätten ableiten lassen und welche Konsequenzen sich für die Verteidigung hieraus ergeben hätten (§ 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO).
Sofern eine konkrete Benennung dieser Tatsachen mangels Zugriffs auf die Bedienungsanleitung nicht möglich ist, muss sich der Rechtsbeschwerdebegründung jedenfalls entnehmen lassen, welche Anstrengungen der Verteidiger bis zum Ablauf der Frist zur Erhebung der Verfahrensrüge (= Rechtsbeschwerdebegründungsfrist) unternommen hat, um sich Einsicht in die Bedienungsanleitung zu verschaffen.

 

Rz. 51

Diese Rechte unterstreicht auch das OLG Brandenburg vom 8.9.2016 – (2 B) 53 Ss-OWi 343/16 (163/16) mit den folgenden Leitsätzen:

Zitat

"1. Die Verwaltungsbehörde muss gem. § 31 Abs. 4 MessEG Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät aufbewahren."

2. Verweigert die Verwaltungsbehörde und sodann das Gericht die vom Verteidiger jeweils beantragte Einsichtnahme in diese Nachweise, liegt hierin ein mit der Rüge nach § 338 Nr. 8 StPO geltend zu machender Verstoß gegen das faire Verfahren, ohne dass der Betroffene auf einen aussichtslos erscheinenden Antrag nach § 62 OWiG oder weitere Bemühungen um Einsichtnahme bei der Verwaltungsbehörde während des Rechtsbeschwerdeverfahrens verwiesen werden kann.“

 

Praxistipp

In der Konsequenz bedeutet dies eine ggf. gewünschte Verzögerung des Verfahrens dadurch, dass im Vorverfahren ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG hinsichtlich der Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht werden kann.[57]

Ansonsten gilt zunächst wenigstens:

[54] Gaede, Fairness als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, S. 243 ff.; ders., HRRS 2004, 44, 45.
[55] EGMR v. 16.12.1992, Edwards vs. Vereinigtes Königreich, ÖJZ 1993, 391.
[56] Wohlers/Schlegel, Zum Umfang des Rechts der Verteidigung auf Akteneinsicht gemäß § 147 I StPO, NStZ 2010, 486, 490.
[57] Ebenso AG Luckenwalde v. 7.10.2013 – 28 OWi 122/13, StraFo 2013, 518.

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