1. Der Zeugenbeweis

 

Rz. 98

Für die nachfolgenden Ausführungen muss dahingestellt bleiben, ob der Mensch als Zeuge "eine Fehlkonstruktion" ist.[48] In der Praxis ist jedenfalls feststellbar, dass der Zeugenbeweis sich als die überwiegende Beweisart darstellt. Dies gilt ungeachtet der in Literatur und Rechtsprechung unbestrittenen Tatsache, dass der Zeuge das schwächste aller Beweismittel ist. Allerdings muss sich der Bevollmächtigte immer bewusst machen, dass auch der Richter um die Schwäche des Beweismittels weiß und deshalb durchaus eher zu einer Beweislastentscheidung tendiert, wenn Zweifel nicht ausgeräumt werden. Dies muss auch der Partei vermittelt werden.

 

Rz. 99

Problematisch ist schon der tatsächliche Wahrnehmungsprozess des Zeugen, wenn dieser in der konkreten Situation nicht gezielt auf die Wahrnehmung der für die Streitfrage entscheidenden Tatsachen konzentriert war.

 

Rz. 100

 

Beispiel

Der Zeuge Z hat sich als Fußgänger an der Fußgängerampel befunden und darauf gewartet, dass diese auf Grün umspringt. Insoweit hat er zunächst die andere Straßenseite beobachtet, wenngleich er auch immer wieder nach rechts und links geblickt hat. Es kommt auf der vor ihm liegenden Straße zu einem Verkehrsunfallereignis, in dem der B auf das Fahrzeug des A auffährt.

Hier erscheint es schon höchst problematisch, inwieweit der auf das Fahrzeuggeschehen nicht zwingend konzentrierte Zeuge etwas zu Abständen, Geschwindigkeiten und zeitlichen Abfolgen sagen kann. Gleichwohl versuchen ihn die Haftpflichtversicherungen, die Bevollmächtigten, der Sachverständige und das Gericht hierauf festzulegen. Nicht jeder Zeuge widersteht der Versuchung, eine Vermutung zur Tatsache werden zu lassen. Kontraproduktiv wirkt sich dies aus, wenn sich später herausstellt, dass die Angabe des Zeugen technisch nicht möglich ist. Dies entwertet dann die gesamte Aussage. Bevollmächtigte und Gericht müssen deshalb den Zeugen so befragen, dass Tatsachenbekundungen und Vermutungen getrennt und in dieser Differenzierung deutlich werden.

 

Rz. 101

Als weiteres Hindernis für eine spätere objektiv zutreffende Aussage des Zeugen stellt sich dar, dass viele Zeugen nicht unmittelbar an dem eigentlichen Streitgeschehen beteiligt sind. Das vorangegangene Beispiel eines Verkehrsunfallereignisses belegt dies ohne Weiteres. Von daher ist relevant, inwieweit der Zeuge sich dauerhaft an die dem Streitereignis zugrunde liegenden Tatsachen erinnert.

 

Rz. 102

 

Hinweis

Es wurde schon in anderem Zusammenhang (Rdn 35) darauf hingewiesen, dass zeitnahe Aussagen des Zeugen zu sichern oder durch eigene Anschreiben des Bevollmächtigten zu erhalten sind, da diese dem Zeugen dann in der späteren Beweisaufnahme vorgehalten werden können. Neben der Sicherung durch den Bevollmächtigten selbst, indem er sich eine schriftliche Aussage oder gar eine eidesstattliche Versicherung übersenden lässt oder auch selbst die Mitteilungen des Zeugen ihm gegenüber dokumentiert, kommt auch die Anregung der Anhörung des Zeugen in einem anderen förmlichen Verfahren, etwa einem Straf- oder Bußgeldverfahren nach einem Verkehrsunfallereignis oder einer sonstigen unerlaubten Handlung in Betracht.

 

Rz. 103

 

Tipp

Gerade dort, wo erhebliche Zeiträume vergehen, bis es nach einer Klageerhebung zu einem Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme kommt, sollte bei Gelegenheitszeugen nicht darauf verzichtet werden, diese zu bitten, ihre Wahrnehmungen schriftlich zu fixieren.

 

Rz. 104

Letztlich stellt sich die Problematik, inwieweit der Zeuge nach einem zum Teil erheblichen Zeitablauf vor Gericht seine tatsächlichen Wahrnehmungen auch so zum Ausdruck bringen kann, dass diese von dem Gericht authentisch aufgenommen und festgestellt werden. Dabei stellt sich als besondere Problematik dar, dass die Zeugenaussagen nicht wörtlich erfasst werden, sondern der Zivilrichter regelmäßig die Aussage des Zeugen als "Zusammenfassung" mit seinen eigenen Worten diktiert. Manche Aussage wird dadurch klarer und eindeutiger, als sie es in Wahrheit war.

 

Rz. 105

 

Tipp

Hier sollte der Rechtsanwalt auf eine sehr genaue Erfassung der Zeugenaussage Wert legen. Dies kann der Bevollmächtigte auch durch Nachfragen und Vorhalte erreichen, ohne das Gericht "wegen unzureichender Protokollführung" zu brüskieren. Auch kann das Gericht gebeten werden, relevante Geschehnisse rund um die Aussage zu protokollieren, etwa dass der Zeuge erst auf mehrfache Nachfrage antwortet, dass er lange nachdenkt, auf die Frage ärgerlich oder laut reagiert usw.

 

Rz. 106

 

Beispiel einer solchen Nachfrage

"Habe ich Sie dahingehend richtig verstanden, dass …?"

"Sie wollen also behaupten, dass …."

 

Rz. 107

In Einzelfällen mag dazu allerdings auch der Antrag nach § 160 Abs. 4 ZPO gehören, die Zeugenaussage oder jedenfalls einzelne Teile wörtlich zu protokollieren. Dazu wird dem Gericht deutlich zu machen sein, dass es gerade auf die wörtliche Wiedergabe der Zeugenaussage ankommt.

 

Rz. 108

 

Hinweis

Verweigert das Gericht fehlerhaft die wörtliche Protokollierung und ist deshalb die nachfolgende Beweiswür...

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