Rz. 161

Ebenso wie das Messverfahren ES3.0 ist deshalb auch dieses Messgerät grundsätzlich als standardisiertes Messverfahren anzuerkennen.[42]

Formale Abweichungen bei den erforderlichen Angaben im Messprotokoll führen nicht per se dazu, das Verfahren nicht mehr als standardisiert anzusehen. Vielmehr muss das Gericht zuvor immer noch überprüfen, zu welchem Zweck die Angabe erfolgen soll und ob sich diese aus dem übrigen Akteninhalt ableiten lässt. Beispielsweise wird das Vorliegen einer Konformitätserklärung regelmäßig darüber hinweghelfen, wenn das Datum der Konformitätsbewertung selbst im Protokoll nicht eingetragen ist. Schließlich kann die Erklärung ohne eine zuvor durchgeführte ordnungsgemäße Bewertung nicht erteilt worden sein.[43] Anders liegt der Fall, wenn die Messanlage entgegen der Bedienungsanleitung aufgebaut wird, z.B. am linken statt am rechten Fahrbahnrand. Dann hat das Tatgericht im Zweifel ein Sachverständigengutachten einzuholen.[44] Ab wann eine Abweichung gravierend genug ist, um eine erweiterte Nachforschungspflicht des Gerichts auszulösen, wird von den Obergerichten unterschiedlich streng gehandhabt. Die Verteidigung sollte daher nicht nur den Fehler, sondern möglichst auch zu dessen Auswirkungen auf die Messung selbst vortragen.

 

Rz. 162

Die rechtlichen Ausführungen zum Vorgänger ES3.0 gelten auch hier. Jedoch gab es 2020 eine Einschränkung bezüglich der Speicherung der vom Gerät erzeugten Messdaten.[45] Die PTB hatte am 28.2.2020 und sodann am 19.5.2020 die Baumusterprüfbescheinigung abgeändert; maßgeblich ist hier nunmehr die Bescheinigung DE-17-M-PTB-0017, Revision 4.

Dort heißt es auf S. 25 unter Ziff. 1.2.3 Hilfsgrößen: "Die signierte Falldatei beinhaltet keine Hilfsgrößen, die zu einer Verwechslung mit mess- und eichrechtlichen relevanten Messgrößen führen könnten."

Auf S. 29 unter Ziff. 5.1 Identifizierung der Software heißt es weiter: "Im Rahmen dieser Revision wird die Verwendung einer neuen Softwareversion der Sensoreinheit mit der Bezeichnung 1.1.0.2 geregelt (siehe Anhang C). Die neue Softwareversion optimiert die Signalauswertung zur Verringerung von Annullationen bei Dunkelheit und gewährleistet, dass es zu keiner Verwechslung von mess- und eichrechtlichen relevanten Messgrößen mit Hilfsgrößen kommen kann."

 

Rz. 163

Das OLG Frankfurt nahm hierauf Bezug und stellte recht despektierlich fest, dass die Änderung bedingt war durch "missbräuchliche Verwendung dieser gespeicherten Hilfsgrößen in sog. Gutachten." Beiziehungs- und Einsichtsanträge seien damit nunmehr gegenstandslos geworden, da es die begehrten Daten nicht (mehr) gibt und das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör deshalb auch nicht verletzt sein kann. Damit sei eine "Parität des Wissens" zwischen Verfolgungsbehörde und Betroffenen sichergestellt.[46]

Hierbei wird jedoch verkannt, dass es bei der Wissensparität zwischen Behörde und Betroffenen nicht darum geht, Wissen der Behörde zu löschen, sondern vielmehr bei der Behörde befindliche Informationen dem Betroffenen zugänglich zu machen. Mit anderen Worten: Der Informationsstand des Betroffenen ist zu erhöhen, nicht der Stand der Behörde zu reduzieren! Dies hat das Bundesverfassungsgericht auch ausdrücklich klargestellt.[47]

Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes sieht bei der gleichgelagerten Thematik zum Gerät TraffiStar S350 eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren in seiner Ausprägung als Recht auf wirksame Verteidigung. Diese Auffassung steht derzeit jedoch allein. Die Konformitätsprüfung durch die PTB helfe nicht darüber hinweg, da die vorgelagerte Prüfung spätere Fehler nicht per se ausschließe.[48] Im Saarland sind die Behörden an diese Rechtsauffassung bis auf Weiteres gebunden.[49] Ausnahmen hierzu finden sich allenfalls bei Entscheidungen zu Fahrtenbuchauflagen, da es sich hierbei um präventive Maßnahmen handeln soll.[50]

Hingegen sprechen die Obergerichte einhellig der Verteidigung ein Einsichtsrecht in nachträglich gelöschte Daten ab.[51] Begründet wird dies damit, dass nach der BGH-Rechtsprechung zum standardisierten Messverfahren nicht der Einzelmesswert überprüfbar sein muss, sondern es allein auf die Überprüfung des Messgerätes selbst ankommt. Die Richtigkeit der Funktionsweise stellt wiederum die PTB sicher; zudem seien geräteintern weitere Kontrollmechanismen vorhanden. Das Gericht hat daher von der Messrichtigkeit auszugehen, dass nach erfolgter Zulassung keine Notwendigkeit der Integration von Zusatzdaten besteht. Ein Erkenntnisgewinn aus diesen Zusatzdaten sei nach richterlicher Auffassung ohnehin beschränkt und erlaube nur "gewissermaßen falsifizierend" Plausibilitätseinschätzungen. Daher könne das Recht auf ein faires Verfahren durch die Löschung von Zusatzdaten nicht tangiert sein.[52]

Auch nachdem das Bundesverfassungsgericht im Dezember 2020 klargestellt hat, dass die Verteidigung grundsätzlich Einsichtsrechte in generierte Messdaten hat, wurde bezüglich nachträglich gelöschter Messdaten weiter an der bisherigen Rechtsprechung ...

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