Rz. 97

BGH, Urt. v. 13.12.2011 – VI ZR 177/10, zfs 2012, 195 = MDR 2012, 145

Zitat

StVG §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 18 Abs. 1, 3; ZPO § 286

Bei Auffahrunfällen auf der Autobahn ist ein Anscheinsbeweis regelmäßig nicht anwendbar, wenn zwar feststeht, dass vor dem Unfall ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist.

a) Der Fall

 

Rz. 98

Die Parteien stritten um den Ersatz des dem Kläger entstandenen Schadens aus einem Auffahrunfall auf der linken Spur einer Autobahn. Der Kläger war Eigentümer eines Pkw Daimler-Benz, der zum Unfallzeitpunkt von der Drittwiderbeklagten zu 2 gefahren wurde und bei der Drittwiderbeklagten zu 3 haftpflichtversichert war. Der Beklagte zu 1 war zum Unfallzeitpunkt Halter und Fahrer eines Pkw Porsche 911 Carrera Cabrio, der bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversichert war.

 

Rz. 99

Am 25.5.2007 fuhr der Pkw Porsche auf der BAB 6 auf der linken Spur auf den Pkw Daimler-Benz auf, der einen Lkw überholen wollte. Der Kläger und die Drittwiderbeklagten haben vorgetragen, dass sich der Pkw Porsche mit überhöhter Geschwindigkeit genähert habe und der mit einer Geschwindigkeit von 100 bis 110 km/h fahrende Pkw Daimler-Benz sich bereits 100 bis 150 m vor Erreichen des Lkws vollständig auf der linken Spur eingeordnet habe. Die Kollision habe stattgefunden, als sich der Pkw Daimler-Benz auf gleicher Höhe mit dem Lkw befunden habe. Nach der Darstellung der Beklagten hatte der Pkw Daimler-Benz, als der Lkw noch mindestens 500 m von diesem entfernt gewesen sei, kurz bevor der Pkw Porsche den Pkw Daimler-Benz habe passieren können, völlig unerwartet und ohne den Fahrtrichtungsanzeiger zu setzen auf die linke Spur gezogen.

 

Rz. 100

Das Landgericht war von einem Haftungsanteil der beiden Unfallbeteiligten von jeweils 50 % ausgegangen und hat den jeweils geltend gemachten Schaden insoweit in einer in den Rechtsmittelverfahren nicht mehr angegriffenen Schadenshöhe für erstattbar gehalten. Auf die nur vom Kläger eingelegte Berufung hat das Oberlandesgericht dem Kläger Schadensersatz zu 100 % zugesprochen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision beantragten die Beklagten, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

b) Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 101

Das Berufungsurteil hielt einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts waren die Grundsätze des Anscheinsbeweises im Streitfall nicht zulasten der Beklagten anwendbar.

 

Rz. 102

Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt auch bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist. Demnach kann bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden sprechen. Es reicht allerdings allein das "Kerngeschehen" – hier: Auffahrunfall – als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des Unfallereignisses der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben.

 

Rz. 103

Infolgedessen ist es bei Auffahrunfällen wie dem vorliegenden (Auffahren auf der linken Spur einer Autobahn in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel des Vorausfahrenden) umstritten, ob es sich um eine typische Auffahrsituation mit der Folge eines Anscheinsbeweises zulasten des Auffahrenden handelt oder nicht.

 

Rz. 104

Bei der Anwendung des Anscheinsbeweises ist nach Auffassung des erkennenden Senats grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil er es erlaubt, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist. Deswegen kann er nach den oben unter 1. dargelegten Grundsätzen nur Anwendung finden, wenn das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür ist, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet wird, schuldhaft gehandelt hat. Eine solche Typizität liegt bei dem hier zu beurteilenden Geschehensablauf regelmäßig nicht vor, wenn zwar feststeht, dass vor dem Auffahrunfall ein Spurwechsel des v...

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