Rz. 216

BGH, Urt. v. 16.1.2007 – VI ZR 248/05, zfs 2007, 378 = VersR 2007, 557

Zitat

BGB § 254 Abs. 1; StVG § 17 Abs. 1; StVO § 4 Abs. 1

Hat die Nichteinhaltung des gebotenen Sicherheitsabstands den Unfall mitverursacht, ist der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile grundsätzlich gegenüber jedem Mitverursacher zu berücksichtigen.

a) Der Fall

 

Rz. 217

Der Kläger begehrte restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall. Der Kläger befuhr mit seinem Pkw die D.-Straße aus Richtung S. kommend. Vor ihm fuhr Frau H. mit ihrem Pkw. Der Beklagte zu 1 kam mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw aus einer Grundstücksausfahrt. Er wollte vor dem herannahenden Pkw von Frau H. nach links in die D.-Straße in Richtung S. einbiegen. Frau H. leitete eine Vollbremsung ein und lenkte ihr Fahrzeug nach links. Auf diese Weise gelang es ihr, einen Zusammenstoß mit dem Pkw des Erstbeklagten zu vermeiden. Der Kläger bremste ebenfalls und versuchte nach links auszuweichen. Dabei kollidierte sein Pkw mit dem von Frau H. Den Schaden des Klägers hat die Zweitbeklagte zu 50 % ersetzt. Mit der Klage hat der Kläger Zahlung weiterer 50 % begehrt. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht war der Auffassung, den Kläger treffe an dem Unfall ein hälftiges Mitverschulden. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgte der Kläger sein Klagebegehren weiter.

b) Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 218

Das angefochtene Urteil hielt den Angriffen der Revision stand.

Der Erstbeklagte hatte gegen § 10 S. 1 StVO verstoßen, als er aus einer Grundstücksausfahrt in die D.-Straße einfuhr, ohne die herannahenden Fahrzeuge zu beachten, und damit den Verkehrsunfall verschuldet. Nach dieser Vorschrift hat sich derjenige, der aus einem Grundstück auf die Straße einfahren will, so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.

 

Rz. 219

Der Verkehrsunfall war allerdings von dem Kläger mitverursacht worden. Wer im Straßenverkehr auf den Vorausfahrenden auffährt, war in der Regel unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm. Dafür spricht der Beweis des ersten Anscheins. Dieser wird nach allgemeinen Grundsätzen nur dadurch erschüttert, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird. Dies kommt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats etwa dann in Betracht, wenn der Nachweis erbracht wird, dass ein Fahrzeug vorausgefahren ist, welches nach seiner Beschaffenheit geeignet war, dem Nachfahrenden die Sicht auf das Hindernis zu versperren, dieses Fahrzeug erst unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur gewechselt hat und dem Nachfahrenden ein Ausweichen nicht mehr möglich oder erheblich erschwert war. Von einem vergleichbaren Sachverhalt konnte nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen vorliegend jedoch nicht ausgegangen werden.

 

Rz. 220

Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann auch dann erschüttert werden, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges "ruckartig" – etwa infolge einer Kollision – zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist. Daran fehlt es aber, wenn das vorausfahrende Fahrzeug – wie hier der Pkw von Frau H. – durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt, denn ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren.

 

Rz. 221

Ohne Erfolg wandte sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht das Mitverschulden des Klägers im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile gemäß § 17 Abs. 1 StVG berücksichtigt hatte.

 

Rz. 222

Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB oder des § 17 StVG ist grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen. In erster Linie ist hierbei nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung.

 

Rz. 223

Diesen Grundsätzen wurde die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung gerecht. Der Umstand, dass der Kläger nach den getroffenen Feststellungen entweder den gemäß § 4 Abs. 1 StVO erforderlichen Abstand zum vorausfahrenden Pkw nicht eingehalten hatte oder aber nicht aufmerksam genug war (vgl. § 1 Abs. 1 und 2 StVO), hatte maßgeblich zu dem Unfallgeschehen beigetragen und ist deshalb im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile zu berücksichtigen. Dem stand nicht entgegen, dass die Einhaltung des Sicherheitsabstands Auffahrunfälle vermeiden...

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