Rz. 190

Die Rechtsfolgen der Verletzung von vertraglichen Obliegenheiten treten nur ein, wenn der Versicherungsnehmer grob fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt hat. Schuldlos oder leicht fahrlässig begangene Obliegenheitsverletzungen sind folgenlos. Die Leistungsfreiheit des Versicherers hängt nicht (mehr) davon ab, ob der Vertrag gekündigt worden ist oder ob die Obliegenheitsverletzung vor oder nach Eintritt des Versicherungsfalles begangen worden ist.

Nur eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Obliegenheitsverletzung führt zur vollständigen (Vorsatz) oder partiellen (grobe Fahrlässigkeit) des Versicherers, wenn die Obliegenheitsverletzung sich kausal auf den Eintritt des Versicherungsfalles oder den Umfang der Leistungspflicht ausgewirkt hat (§ 28 Abs. 3 VVG).

1. Kündigung (§ 28 Abs. 1 VVG)

 

Rz. 191

Die grob fahrlässige oder vorsätzliche Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers berechtigt den Versicherer, den Vertrag innerhalb eines Monats zu kündigen. Im Regelfall wird eine derartige Obliegenheitsverletzung dem Versicherer erst bekannt, wenn der Versicherungsfall eingetreten ist. Hier räumt § 92 VVG dem Versicherer (auch dem Versicherungsnehmer) ein generelles Kündigungsrecht innerhalb einer Frist von einem Monat ein.

§ 28 Abs. 1 VVG gibt dem Versicherer auch die Möglichkeit, den Versicherungsvertrag ohne Schadenfall zu kündigen, wenn er von einer grob fährlässigen oder vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers Kenntnis erlangt.

2. Vorsatz

 

Rz. 192

Eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers führt zur vollständigen Leistungsfreiheit des Versicherers, wenn diese Obliegenheitsverletzung ursächlich für den Eintritt oder den Umfang des Schadens war.

Vorsatz erfordert das Wollen der Obliegenheitsverletzung im Bewusstsein des Vorhandenseins der Verhaltensnorm; es genügt auch bedingter Vorsatz, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheitsverletzung für möglich hält und billigend in Kauf nimmt.[191]

[191] Prölss/Martin/Armbrüster, § 28 VVG Rn 188 m.w.N.

3. Grobe Fahrlässigkeit

 

Rz. 193

Eine grob fahrlässige Obliegenheitsverletzung die ursächlich für den Eintritt des Schadens oder dessen Umfang war, führt zur partiellen Leistungsfreiheit des Versicherers: Dieser kann seine Leistung "in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis" kürzen (§ 28 Abs. 2 S. 2 VVG).

Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt gröblich verletzt und das unbeachtet lässt, was unter den gegebenen Umständen jedem einleuchten musste.[192]

[192] Prölss/Martin/Armbrüster, § 28 VVG Rn 205 ff.

a) Überblick

 

Rz. 194

"Herzstück" des reformierten VVG 2008 war die Abschaffung des "Alles oder Nichts-Prinzips" bei grober Fahrlässigkeit, und zwar nicht nur bei Herbeiführung des Versicherungsfalles, sondern auch bei Obliegenheitsverletzungen. Die Quotenbildung bei grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung gab es bereits seit 1976 – unbemerkt in der Bundesrepublik Deutschland – in der DDR. § 245 Abs. 1 S. 3 ZGB/DDR enthielt zu den Kürzungsmaßstäben bei Obliegenheitsverletzungen folgende Regelung:

Zitat

"Hierbei sind die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pflichtverletzung, Art und Grad des Verschuldens, die Schwere der Folgen sowie die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherungsnehmers und der vom Schaden betroffenen mitversicherten Personen zu berücksichtigen."

 

Rz. 195

Zunächst wurde im Schrifttum und in der Kommentierung das sog. "Mittelwertmodell" favorisiert, nach dem von einer "Einstiegsquote" von 50 % auszugehen sei; der Versicherungsnehmer, der eine höhere Leistung verlange, müsse beweisen, dass sein Verhalten unterhalb der mittleren groben Fahrlässigkeit anzusiedeln sei, der Versicherer trage die Beweislast, wenn er eine höhere Leistungskürzung mit der Begründung vornehmen wolle, der Versicherungsnehmer habe ein Verhalten gezeigt, welches deutliche über der mittleren groben Fahrlässigkeit liege.[193] Dieses Mittelwertmodell ist zwar praktikabel, ist aber mit der Intention des Gesetzgebers, der auf den Einzelfall abstellt, nicht vereinbar.[194] In der Begründung des Regierungsentwurfs vom 16.10.2006 heißt es auf S. 173:

Zitat

"Für das Verschuldensmaß, nach dem sich im Fall grober Fahrlässigkeit der Umfang der Leistungspflicht bestimmt, ist der Versicherer beweispflichtig."

 

Rz. 196

Bestätigt wird diese Auffassung durch das Urteil des BGH vom 22.6.2011[195] In dieser Entscheidung heißt es:

Zitat

"Hat der Versicherungsnehmer entlastende Umstände vorgetragen, die den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit jedenfalls im subjektiven Bereich in milderem Licht erscheinen lassen, und kann der Versicherer diese nicht ausräumen, so kommt nur eine anteilige Kürzung und keine vollständige Leistungsfreiheit in Betracht."

 

Rz. 197

Folgerichtig setzt sich in der Rechtsprechung immer mehr das "Zwei-Skalen-Modell" durch, nach dem die objektive und die subjektive Seite des Fehlverhaltens auf einer Skala von 0 bis 100 zu bewerten ist.[196] Jeder Einzelfall ist unter Berücksichtigung der subjektiven und objektiven Seite zu bewerten, un...

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