Rz. 246

BGH, Urt. v. 16.11.2021 – VI ZR 100/20, juris

Zitat

BGB § 249

Gelingt es dem Geschädigten entgegen der Einschätzung des von ihm beauftragten Sachverständigen zur Überzeugung des Tatrichters, die erforderliche Reparatur seines Fahrzeugs unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts innerhalb der 130%-Grenze fachgerecht und in einem Umfang durchzuführen, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kosten-schätzung gemacht hat, und stellt der Geschädigte damit den Zustand seines Fahrzeugs wie vor dem Unfall wieder her, um es nach der Reparatur weiter zu nutzen, kann er Ersatz des entstandenen Reparaturaufwands verlangen.

a) Der Fall

 

Rz. 247

Der Kläger begehrte restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 3.2.2015, bei dem sein Fahrzeug durch ein von der Beklagten gehaltenes Fahrzeug beschädigt wurde. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht zwischen den Parteien außer Streit. Der vom Kläger nach dem Unfall mit der Begutachtung des Kraftfahrzeugschadens beauftragte Sachverständige ermittelte voraussichtliche Reparaturkosten in Höhe von 7.148,84 EUR brutto, einen Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs von 4.500 EUR brutto und einen Restwert von 1.210 EUR brutto. Die Beklagte regulierte den Schaden auf der Grundlage des Wiederbeschaffungsaufwands. Sie brachte von dem vom Sachverständigen geschätzten Wiederbeschaffungswert einen mit Hilfe einer Restwert-Online-Börse ermittelten Wert in Höhe von 1.420 EUR in Abzug und zahlte an den Kläger 3.080 EUR. Der Kläger ließ sein Fahrzeug bei der Dienstleistungsgesellschaft A. zum Preis von 5.695,49 EUR brutto reparieren und nutzte es weiter.

 

Rz. 248

Mit der Klage machte der Kläger die Differenz in Höhe von 2.615,49 EUR zwischen den angefallenen Reparaturkosten und der Zahlung der Beklagten geltend. Während des erstinstanzlichen Verfahrens – im September 2017 – hat der Kläger sein Fahrzeug veräußert. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision verfolgte die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

b) Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 249

Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats steht dem Geschädigten in Abweichung vom Wirtschaftlichkeitsgebot ausnahmsweise ein Anspruch auf Ersatz des den Wiederbeschaffungswert des beschädigten Fahrzeugs um bis zu 30 % übersteigenden Reparaturaufwands (Reparaturkosten zuzüglich einer etwaigen Entschädigung für den merkantilen Minderwert) zu, wenn er ein besonderes Integritätsinteresse zum Ausdruck bringt. Dies setzt voraus, dass er den Zustand des ihm vertrauten Fahrzeugs wie vor dem Unfall wiederherstellt, um es nach der Reparatur weiter zu nutzen. Von einer Wiederherstellung in diesem Sinne kann dabei nur dann ausgegangen werden, wenn die Reparatur fachgerecht und in einem Umfang durchgeführt wird, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat.

 

Rz. 250

Die Instandsetzung eines beschädigten Fahrzeugs ist demgegenüber wirtschaftlich unvernünftig, wenn der Reparaturaufwand (Reparaturkosten zuzüglich einer etwaigen Entschädigung für den merkantilen Minderwert) den Wiederbeschaffungswert um mehr als 30 % übersteigt. In einem solchen Fall, in dem das Kraftfahrzeug nicht mehr reparaturwürdig ist, kann der Geschädigte vom Schädiger grundsätzlich nur den Ersatz des Wiederbeschaffungsaufwands, also den Wiederbeschaffungswert abzüglich des Restwerts, verlangen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Geschädigte auf der Grundlage eines entsprechenden Gutachtens den Weg der Schadensbehebung mit dem vermeintlich geringeren Aufwand wählt, die Reparatur aber teurer wird und ihm nicht ausnahmsweise ein (Auswahl-)Verschulden zur Last fällt; denn das Werkstatt- und das Prognoserisiko geht zu Lasten des Schädigers. Lässt der Geschädigte sein Fahrzeug dagegen reparieren, obwohl der voraussichtliche Instandsetzungsaufwand nach der Schadensschätzung des vom ihm beauftragten Sachverständigen – wie hier – mehr als 30 % über dem Wiederbeschaffungswert des unfallbeschädigten Kraftfahrzeugs liegt und erweist sich die Schätzung des Sachverständigen als zutreffend, ist der Ersatzanspruch der Höhe nach auf den Wiederbeschaffungsaufwand beschränkt. Die Reparaturkosten können dann insbesondere nicht in einen vom Schädiger auszugleichenden wirtschaftlich vernünftigen Teil (bis zu 130 % des Wiederbeschaffungswerts) und einen vom Geschädigten selbst zu tragenden wirtschaftlich unvernünftigen Teil aufgespalten werden.

 

Rz. 251

Wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat, bestimmen die Angaben des vom Geschädigten beauftragten Sachverständigen zur Höhe der voraussichtlich anfallenden Reparaturkosten nicht verbindlich den Geldbetrag, den der Geschädigte als Schadensersatz gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB beanspruchen kann. Der Geschädigte ist insbesondere nicht gehindert, den Angaben des Sachverständigen konkret entgegenzutreten und geltend zu machen, der von diesem ermittelte Betrag gebe den zur Herstellung objektiv erforderlichen Betrag nicht z...

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