Rz. 21

Die Begutachtungsleitlinien können gleichfalls als Richtlinien angesehen werden. Sie beruhen auf der Zusammenführung des Gutachtens "Krankheit und Kraftverkehr", 5. Auflage, Stand: August 1996[66] und des Psychologischen Gutachtens Kraftfahreignung.[67]

 

Rz. 22

Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung[68] werden im Vorwort dementsprechend als 6. Auflage des Gutachtens "Krankheit und Kraftverkehr" bezeichnet.[69]

 

Rz. 23

Die Leitlinien enthalten ergänzende Vorschriften zur Anlage 4 der FeV. Bei der 6. Auflage wurden insbesondere die Kapitel über Alkohol- und Drogenproblematik aus medizinischer und psychologischer Sicht überarbeitet und den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst. Gerade diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die im Rahmen des Verfahrens[70] eingeführten Gutachten.[71]

 

Rz. 24

Im Rahmen der kontinuierlichen Überarbeitung sind die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung nunmehr mit Stand vom 1.5.2014 veröffentlicht.[72]

 

Rz. 25

Soweit die Begutachtungsleitlinien die in den maßgebenden Fachkreisen allgemein und zweifelsfrei anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Grundsätze festschreiben, sind sie antizipierter Sachverstand[73] und antizipierte Sachverständigengutachten. Da hier ein großes Maß an Sachverstand repräsentiert wird, sind sie damit für Gerichte, Verwaltung, aber auch für die Untersuchungsstellen[74] aus diesem Gesichtspunkt der Sachkompetenz heraus grundsätzlich auf dem Rang und mit der Wirkkraft eines Sachverständigengutachtens bindend.[75] Im Rang stehen die Begutachtungsleitlinien aber hinter den "Anlagen" zur FeV, da diese als Bestandteil einer Rechtsverordnung deren Rechtscharakter teilen (dazu oben zur FeV und ihren Anlagen (siehe Rdn 13).[76] Es darf nämlich nicht übersehen werden, dass die Leitlinien nicht die Bindungswirkung von Rechtsverordnungen haben können.

 

Rz. 26

Hinzu kommt, dass – anders als bei den Begutachtungsleitlinien – der Verordnungsgeber gemäß § 46 Abs. 1 S. 2 FeV i.V.m. der Anlage 4 aufgrund und im Rahmen der Ermächtigung des § 6 Abs. 1 Nr. 1c StVG eine eigene Bewertung der Auswirkungen bestimmter Verhaltensweisen und Erkrankungen auf die Fahreignung zum Führen von Kfz vorgenommen hat. Er zeichnet damit das in der Anlage 4 zusammengefasste Erkenntnismaterial und Erfahrungswissen über die Funktion einer bloßen Entscheidungshilfe hinaus als für den Regelfall verbindlich aus. § 46 Abs. 1 S. 2 FeV i.V.m. Anlage 4 legt danach verbindlich fest, was im Regelfall die Eignung zum Führen von Kfz ausschließt.[77]

 

Rz. 27

Die hier beschriebene Rechtsqualität der Begutachtungsleitlinien als antizipierter Sachverstand führt dazu, dass dann, wenn sich anerkannte gesicherteneue wissenschaftliche Erkenntnisse ergeben, die im Widerspruch zu den bislang gültigen Begutachtungsleitlinien stehen, nunmehr diese neuen Standards anzuwenden sind. Unter dann allerdings notwendigem substantiiertem Vortrag, wonach es sich tatsächlich auch um weitere in der Wissenschaft gesicherte Erkenntnisfortschritte handelt, muss dies dann auch wissenschaftlich belegt dargestellt werden.[78]

 

Rz. 28

Vor dem Hintergrund des zuvor skizzierten Rangverhältnisses zwischen der Anlage 4 zur FeV und den Begutachtungsleitlinien stellt sich die Frage der Verbindlichkeit der Bewertungen durch die Anlage 4 in dem Fall, in dem ihr neue anerkannte und gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse entgegenstehen.

 

Rz. 29

Klar ist, dass der Verordnungsgeber die Anlage "auf die Höhe der Zeit" zu bringen hat. Fraglich ist nur, wie bis zur Änderung der Anlage zur FeV zu verfahren ist.

 

Rz. 30

Bode/Winkler[79] wollen die zuvor zu den Begutachtungsleitlinien entwickelten Grundsätze auch hier anwenden. Ungeachtet der Normenhierarchie ist dem im Ergebnis zuzustimmen. In Fachkreisen anerkannter "Stand der Technik", vom Sachverstand allgemein und zweifelsfrei als richtig Anerkanntes ist auch für die Gerichte bindend.[80] Wissenschaftliche Erkenntnis und insbesondere auch gesicherte Erkenntnisfortschritte können nicht durch Rechtsquellen, also auch nicht durch Gesetz oder Verordnung, ausgehebelt werden. Gerichte und Verwaltung sind eben nicht nur an Gesetz, sondern auch an Recht gebunden, Art. 20 Abs. 3 GG. Für die Rechtsanwendung durch die Verwaltung stellt sich dann allerdings noch die Frage der Normverwerfungskompetenz.[81]

 

Praxistipp

Wegen der großen Bedeutung der Begutachtungsleitlinien ist es für den mit verkehrsverwaltungsrechtlichen Fragen befassten Anwalt unerlässlich, das erforderliche Hintergrundwissen in medizinischer wie psychologischer Sicht zur Verfügung zu haben. Das wird über den Kommentar zu den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung[82] vermittelt. Nachdem dieser Kommentar zur Standardausstattung jeder Fahrerlaubnisbehörde gehört, sollte es auch in der Kanzlei eines Fachanwalts für Verkehrsrecht nicht fehlen!

[66] Beachte auch den Hinweis zur Anwendung des Gutachtens in VkBl 1998 S. 30.
[67] Kroj (Hrsg.), erstellt durch die Kommission der Sektion Verkehrspsychologie im Berufsv...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge