Rz. 3

Als Gründe für die Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts und dem damit verbundenen weitreichenden Eingriff in die Testierfreiheit werden heute genannt:[4]

Der Versorgungs- und Alimentationscharakter. Bei Inkrafttreten des BGB spielte dieser Gesichtspunkt noch eine größere Rolle. Denn damals waren die Alterssicherung und Berufsausbildung noch im Wesentlichen der privaten Vorsorge überlassen, während heute dies in vielfältiger Weise bereits durch die Leistungen der Eltern gegenüber ihren Kindern, insb. zur Ermöglichung einer qualifizierten Ausbildung, oder durch die Leistungen des Sozialstaates geschieht;[5]
ein Steuerungseffekt gegen die Bildung von zu großen Vermögen.[6] Dieser Gedanke findet sich insb. bei den Beratungen zum BGB, um fideikommissartige Zustände zu verhindern. Daneben wurden damals in diesem Zusammenhang auch familienpatriarische und deutsch-völkische Überlegungen vorgetragen;
eine Freiheitsbegrenzung, da anders als bei der sonstigen Ausübung von Freiheitsrechten bei der Testierfreiheit den Erblasser zu Lebzeiten keine Verantwortung für sein freiheitliches Handeln treffe; sowie
die Sicherung der Teilhabe am Familienvermögen und Familiengebundenheit des Vermögens.
Mehr skizzenhaft hingeworfen findet sich neuerdings eine Überlegung, im Rahmen einer Neubewertung des Pflichtteilsrechts[7] den Gedanken der Generationengerechtigkeit weniger mit der individuellen Familiengerechtigkeit als mit der Nachhaltigkeit zu verknüpfen und auch über den Zusammenhang des Pflichtteilsrechts mit dem Gemeinwohl nachzudenken. Da der Staat zunehmend für die Unterhaltsverpflichtungen aufkomme, die früher von der Familie getragen wurden, müsse hinterfragt werden, ob das Familienvermögen "am Staat vorbei vererbt werden kann". Dies gelte gerade für das Verhältnis des Sozialhilferechts zum Pflichtteil von "Problemkindern". Soll es möglich sein, dass ein Kind nur die Erträge des Familienvermögens erhält, während die Allgemeinheit für die Kosten dieses Kindes aufkommen müsse?[8] Die aktuelle Rspr. des BGH verläuft demgegenüber zu diesen Überlegungen genau entgegengesetzt. Dies zeigt insb. die Entscheidung aus der jüngeren Vergangenheit zur Zulässigkeit des Pflichtteilsverzichts eines körperbehinderten Kindes, das Sozialhilfe bereits bei Abgabe der Verzichtserklärung bezog[9] (eingehend dazu § 11 Rdn 46).
 

Rz. 4

Verfassungsrechtlich steht das Pflichtteilsrecht im Spannungsfeld zwischen dem Prinzip der Testierfreiheit, das der Erblasser für sich in Anspruch nehmen will, und dem Verwandtenerbrecht. (1) Nach ganz h.M. genießt das Pflichtteilsrecht über Art. 14 i.V.m. Art. 6 GG zumindest in bestimmten Grenzen verfassungsrechtlichen Bestandsschutz, was insb. der BGH mehrmals betont hat.[10] (2) Nach einer Mindermeinung verhalte sich das Grundgesetz zum Pflichtteilsrecht neutral,[11] während vereinzelt vertreten wurde, dass (3) das Pflichtteilsrecht verfassungswidrig sei.[12]

[4] Umfassend zu den Grundüberlegungen, die dem Pflichtteilsrecht zugrunde liegen, Muscheler, Erbrecht, 2010, Bd. I, Rn 421 ff.
[5] Vgl. etwa Strätz, FamRZ 1998, 1553, 1556; Schlüter, 50 Jahre BGH – Festgabe der Wissenschaft, 2000, S. 1049; Klingelhöffer, ZEV 2010, 385 f.; anders Otte, AcP 202 (2002), 317, 348 ff.
[6] Vgl. etwa Otte, ZEV 1994, 193, 196 f.; Kipp/Coing, Erbrecht, § 8 II.
[7] Vgl. dazu Dauner-Lieb, FF 2000, 110, 111.
[8] Vgl. Hk-PflichtteilsR/Dauner-Lieb/Grziwotz, Einl. Rn 14.
[9] BGHZ 188, 96 = NJW 2011, 1586.
[10] BGHZ 98, 226, 233 = NJW 1987, 122, 123; BGHZ 109, 306, 313 = NJW 1990, 911 (zur Pflichtteilsentziehung); OLG Frankfurt v. 10.10.1997 – 10 U 11/97 (hierzu Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung nicht angenommen); MüKo-BGB/Lange, § 2303 Rn 3 f. m.w.N. zur h.M.
[11] BGB-RGRK/Kregel, Einl. zu §§ 1922 ff. Rn 4; Kuchinke, FF 2002, 161, 163.
[12] Petri, ZRP 1993, 205, 206; Steffen, DRiZ 1972, 263, 267; bzgl. des Pflichtteilsentziehungsrechts Bowitz, JZ 1980, 304, 307.

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