Rz. 149

Die Qualifikation der Pflicht zur Rechnungslegung, der Führung der Handelsbücher, der Erstellung des Jahresabschlusses einschließlich der Abschlussprüfung und Rechnungspublizität ist in Deutschland umstritten. Teilweise verweist man auf die öffentlichen Interessen, die diesen Vorschriften zugrunde lägen, und geht daher von einer öffentlich-rechtlichen Qualifikation aus. Folge sei, dass Zweigniederlassungen ausländischer Gesellschaften in Deutschland den Vorschriften in §§ 238 ff. HGB unterlägen.[203] Die Gegenauffassung qualifiziert die hiermit zusammenhängenden Fragen gesellschaftsrechtlich. Die Bestimmungen des HGB sind danach mithin nur dann anwendbar, wenn und soweit die Gesellschaft deutschem Gesellschaftsstatut unterliegt.[204]

 

Rz. 150

Die praktische Bedeutung dieses Streits hält sich in Grenzen: § 325a Abs. 1 Satz 1 HGB bestimmt ausdrücklich, dass bei einer im Inland belegenen Zweigniederlassung einer Kapitalgesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU die nach dem für die Hauptniederlassung maßgeblichen Recht erstellten Unterlagen der Rechnungslegung zum Handelsregister der Zweigniederlassung vorzulegen sind. Diese Regelung geht auf Art. 9 der Zweigniederlassungsrichtlinie[205] zurück. Hieraus ergibt sich, dass auch bei einer Zweigniederlassung im Inland für die Zweigniederlassung keine zusätzliche Vornahme der Rechnungslegung nach den im Zweigniederlassungsstaat geltenden Regeln erfolgen muss, sondern die nach dem ausländischen Gründungsrecht vorgenommene Rechnungslegung ausreicht. Nur die zusätzliche Publizität im Zweigniederlassungsstaat bestimmt sich dann nach dem im Zweigniederlassungsstaat geltenden Recht.[206] Die Erstellung eines Jahresabschlusses nach deutschem Recht kann also nicht verlangt werden.

 

Rz. 151

Dies muss dann auch für EU-Gesellschaften mit faktischem Inlandssitz gelten, die also ihre faktische Hauptniederlassung im Inland haben, denn spätestens seit den Entscheidungen Centros und Überseering ist deutlich, dass die inländische faktische Hauptniederlassung einer in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Kapitalgesellschaft als Zweigniederlassung i.S.d. Zweigniederlassungsrichtlinie zu behandeln ist.[207]

 

Rz. 152

Die Frage nach der öffentlich-rechtlichen bzw. gesellschaftsrechtlichen Qualifikation bleibt damit nur für solche Fälle von Bedeutung, in denen die Gesellschaft weder der EU noch dem EWR angehört.

[203] Merkt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 40. Aufl. 2021, § 238 Rn 9; Riegger, ZGR 2004, 510; Röhricht, in: Röhricht/Graf von Westphalen, HGB, 3. Aufl. 2008, Einl. Rn 52; MüKo-BGB/Kindler, IntGesR, 8. Aufl. 2020, Rn 276; Spahlinger/Wegen, Internationales Gesellschaftsrecht, 2005, Rn 563.
[204] Von Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht II, 2. Aufl. 2019, § 7 Rn 211; Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, 1996, S. 183; GroßkommGmbHG/Behrens/Hoffmann, 3. Aufl. 2019, Einl. B Rn 122; Staudinger/Großfeld, IntGesR, 1998, Rn 366; Leible, in: Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, 3. Aufl. 2017, System. Darst. 2 Teil 1 Rn 175; Westhoff, in: Hirte/Bücker, Grenzüberschreitende Gesellschaften, 2. Aufl. 2006, § 18 Rn 32.
[205] Text der Richtlinie im Downloadbereich unter der Rubrik Europa-Gesetzgebung.
[206] Merkt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 40. Aufl. 2021, § 325a Rn 1.
[207] Spahlinger/Wegen, Internationales Gesellschaftsrecht, 2005, Rn 566.

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