Rz. 191

Ein Eingriff in die Personensorge ist geboten, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes objektiv nachhaltig[643] gefährdet ist[644] und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden.[645]

Oberster Maßstab für eine Maßnahme nach § 1666 BGB ist das Kindeswohl. Grundlage hierfür ist die normative Vorgabe in § 1697a BGB. Eine strikte Trennung zwischen der Gefährdung des körperlichen, des geistigen und des seelischen Wohls des Kindes ist in der Praxis oft kaum möglich; denn eine gravierende körperliche Misshandlung des Kindes bleibt nicht ohne Auswirkung auf sein seelisches Empfinden. Die Abgrenzung ist allerdings auch nicht erforderlich.

 

Rz. 192

Der Entzug der Personensorge in seiner Gesamtheit oder Teilbereichen setzt immer voraus, dass andere Maßnahmen entweder bereits erfolglos geblieben sind oder zuverlässig abgeschätzt werden kann, dass sie zur Gefahrenabwendung nicht ausreichen werden.[646] Ebenso wenig darf zu erwarten sein, dass andere Maßnahmen, vor allem in der Form öffentlicher Hilfen, etwa durch Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII oder durch begleitende intensive ärztliche Kontrollen,[647] erfolgreich sein werden.[648] Die Prognose, dass öffentliche Hilfen keine Früchte tragen werden, muss auf einer zuverlässigen Grundlage beruhen. Entweder muss die Hilfe bereits erfolglos versucht worden sein oder es muss mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass eine noch nicht eingeleitete Hilfe keinen Erfolg verspricht.[649] Ob öffentliche Hilfen erfolgversprechend sind, muss das Familiengericht in eigener Verantwortung beurteilen. Weil die Ermittlungspflicht grundrechtliche Schutzfunktion entfaltet, können sich die Gerichte ihrer nicht ohne gesetzliche Grundlage entledigen – auch nicht im Wege der Annahme einer Bindung an Feststellungen des Jugendamts. Aus §§ 1666, 1666a BGB oder den Vorschriften des SGB VIII über die Gewährung öffentlicher Hilfen ist für die Annahme einer Bindung des Familiengerichts an die Feststellungen des Jugendamts nichts erkennbar. Eine Bindung ergibt sich auch nicht aus den Grundsätzen über die verfassungsrechtliche Anerkennung administrativer Letztentscheidungsrechte. Die familiengerichtliche Entscheidung nach § 1666 BGB ist nicht als Kontrolle behördlicher Entscheidungen, sondern als eigene und originäre Sachentscheidung des Gerichts ausgestaltet. Die gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen des Jugendamts über die Gewährung öffentlicher Hilfen obliegt de lege lata nicht den Familiengerichten, sondern den Verwaltungsgerichten. Den Eltern kann – selbst im Falle des Entzugs des Rechts zur Beantragung von Hilfen nach dem SGB VIII – von Verfassungs wegen nicht das Recht genommen werden, eine effek­tive Möglichkeit der Überprüfung der behördlichen Entscheidung hierüber zu erhalten. Dem ­Beschluss muss zudem zu entnehmen sein, auf welche konkreten – unbestrittenen oder belegten – Umstände oder Vorkommnisse das Gericht diese Annahme stützt (siehe dazu auch Rdn 207).[650] Ist abzusehen, dass das Jugendamt als Ergänzungspfleger in nächster Zeit keine Fremdunterbringung des Kindes herbeiführen wird, kommt eine teilweise Entziehung und Übertragung des Sorgerechts ("auf Vorrat") nicht in Betracht. Denn diese ist zur Beseitigung der Gefahr für ein Kind grundsätzlich nur dann geeignet, wenn der Ergänzungspfleger oder Vormund mithilfe der übertragenen Teilbereiche des Sorgerechts konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation des Kindes einleiten, das heißt den als gefährlich definierten Zustand beenden oder wenigstens zu dessen Beendigung beitragen kann.[651]

Denn hält das Familiengericht eine Fremdunterbringung für geeignet, um die Situation des Kindes zu verbessern, und bestellt es das Jugendamt für Teilbereiche des Sorgerechts zum Ergänzungspfleger, kann es zwar üblicherweise darauf vertrauen, das Jugendamt werde zeitnah zu einem entsprechenden Gebrauch des Sorgerechts bereit und in der Lage sein. Eine genauere Eignungsprüfung ist jedoch dann veranlasst, wenn deutlich erkennbar ist, dass das Jugendamt derzeit keine Maßnahmen zur Beseitigung der Kindeswohlgefahr ergreift – sei es, weil keine Handlungsmöglichkeit besteht, sei es, weil das Jugendamt denkbare Maßnahmen nicht für angezeigt hält. Auch die Gerichte können das Jugendamt nicht ohne Weiteres zur Einleitung konkreter Maßnahmen der Fremdunterbringung verpflichten.[652]

Das Familiengericht hat im Rahmen der ihnen nach § 1837 Abs. 2 BGB obliegenden Aufsicht nicht die Möglichkeit, den Ergänzungspfleger (also in der Regel das Jugendamt) zu verpflichten, in Ausübung des ihm übertragenen Rechts zur Beantragung öffentlicher Hilfen eine bestimmte Maßnahme der Jugendhilfe (§§ 27 ff. SGB VIII) – einschließlich der für die Fremdunterbringung des Kindes relevanten Heimerziehung oder sonstigen betreuten Wohnformen (§ 34 SGB VIII) – zu beantragen.,[653] Ebensowenig ist das Familiengericht befugt, das Jugendamt unmittelbar in seiner Eigenschaft als für die Jugendhilf...

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