Rz. 205

Bei der Auswahl der zur Gefahrenabwendung notwendigen Maßnahmen hat sich das Familiengericht am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu orientieren, also daran, welche Maßnahmen im Einzelfall zum legitimen Zweck der Abwendung der Gefährdung geeignet, erforderlich und zuletzt auch noch zumutbar sind. Dabei beinhaltet die Erforderlichkeit das Gebot, aus den zur Erreichung des Zweckes gleich gut geeigneten Mitteln das mildeste, also die geschützte Rechtsposition am wenigsten beeinträchtigende Mittel zu wählen,[742] wobei an die Geeignetheit des milderen Mittels im Rahmen von Maßnahmen nach §§ 1666, 1666a BGB keine überzogenen Anforderungen zu stellen sind.[743] An der Erforderlichkeit fehlt es nicht nur, wenn die ins Auge gefasste Maßnahme die Gefährdung des Kindeswohls nicht beseitigen kann. Vielmehr ist die Maßnahme auch dann ungeeignet, wenn sie in anderen Belangen des Kindeswohls wiederum eine Gefährdungslage schafft und deswegen in der Gesamtbetrachtung zu keiner Verbesserung der Situation des gefährdeten Kindes führt.[744] § 1666 Abs. 3 BGB enthält konkrete Beispiele, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz veranschaulichen sollen; denn der teilweise oder vollständige Sorgerechtsentzug steht an letzter Stelle.

 

Rz. 206

Folgende Maßnahmen kommen beispielsweise in Betracht:

Ermahnungen, Verwarnungen oder Verhaltensgebote bzw. -verbote.[745] Insoweit nennt § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen. In Betracht kommt zum Beispiel eine Erziehungsbeistandschaft nach § 30 SGB VIII.[746] Die Anordnung, eine Psychotherapie aufzunehmen oder fortzusetzen,[747] ist nur hinsichtlich des Kindes zulässig,[748] nicht aber bezüglich eines Elternteils; denn § 1666 BGB bietet hierfür keine Rechtsgrundlage, da diese Vorschrift nur das rechtliche Band zwischen Elternteil und Kind anbetrifft.[749] Aus demselben Grund können einem Elternteil nicht Untersuchungen auf Alkohol- oder Drogenkonsum auferlegt[750] und kann ein gewalttätiger Elternteil auch nicht auf der Grundlage von § 1666 BGB zu einem Antigewalttraining oder einem sozialen Trainingskurs verpflichtet werden (zur Frage der Anfechtbarkeit, soweit diese Entscheidung lediglich Zwischenentscheidungen in einem laufenden Verfahren sind, siehe § 9 Rdn 12).[751] Die Anordnungen nach § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB müssen außerdem inhaltlich so bestimmt sein, dass die Eltern eindeutig erkennen können, welches konkrete Verhalten von ihnen erwartet wird. Ein Gebot etwa "vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Jugendamt" wird dem nicht gerecht.[752] Die Auflage, für das gefährdete Kind "öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen", kann nicht erteilt werden, weil sie nur den Gesetzeswortlaut des § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB wiedergibt und daher zu unbestimmt ist.[753] Die pauschale Anordnung, die Eltern hätten "den Weisungen des Jugendamtes Folge zu leisten", ist unzulässig, weil sie faktisch einem vollständigen Sorgerechtsentzug gleichkommt.[754] Die Aufnahme oder Fortsetzung einer Psychotherapie des Kindes kann hingegen angeordnet werden.[755] Ebenso können die Eltern verpflichtet werden, einen Kindertagesbetreuungsplatz in Anspruch zu nehmen.[756]

Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen (§ 1666 Abs. 3 Nr. 2 BGB),[757]
Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen (beachte dabei aber auch § 1666a Abs. 1 S. 2 bis 4 BGB!),[758] sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält (§ 1666 Abs. 3 Nr. 3 BGB) und Verbote, Verbindung mit dem Kind aufzunehmen (§ 1666 Abs. 3 Nr. 4 BGB); man erkennt hier die Parallele zu den Anordnungen nach dem GewSchG,[759]
der Wechsel von der Alleinsorge zur gemeinsamen Sorge,[760]
die Auflage, das Kind nicht gegen seinen Willen in einem der Scientology-Sekte nahestehenden Internat unterzubringen,[761]
die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge[762] (§ 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB),
der Entzug von Teilen der Personensorge, etwa des Aufenthaltsbestimmungsrechts,[763] ggf. auch nur Teilen hiervon (siehe dazu sogleich Rdn 207),[764] des Rechts zur Bestimmung des Umgangs (zum Umgangsbestimmungsrecht siehe § 4 Rdn 16 ff.; zur Umgangspflegschaft siehe § 2 Rdn 39)[765] oder des Rechts zur Gesundheitsfürsorge,[766] oder der Entzug der gesamten elterlichen Sorge (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB).
 

Rz. 207

Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit darf die gesamte Personensorge nur entzogen werden, wenn mildere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder zu erwarten ist, dass sie zur Gefahrenabwehr nicht ausreichen.[767] So lässt beispielsweise § 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB auch einen bloßen teilweisen, auf die Frage des Wegzugs vom bisherigen Wohnort des Kindes beschränkten Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts zu.[768] Kann für d...

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