Rz. 14

Unter eine Rechtssache fällt jede rechtliche Angelegenheit, die zwischen mehreren Beteiligten mit möglicherweise entgegenstehenden rechtlichen Interessen nach Rechtsgrundsätzen behandelt oder erledigt werden soll.[24] Ob dieselbe Rechtssache vorliegt, bestimmt sich nach dem sachlich-rechtlichen Inhalt der anvertrauten Angelegenheit.[25]

Entscheidend ist, dass das anvertraute materielle Rechtsverhältnis bei natürlicher Betrachtungsweise auf ein innerlich zusammengehöriges, einheitliches Lebensverhältnis zurückgeführt werden kann.[26] Dieselbe Rechtssache setzt daher die Identität der dem Rechtsanwalt anvertrauten Lebenssachverhalte voraus, wonach in beiden Sachenverhalten ein und derselbe historische Vorgang von Bedeutung sein muss.[27] Nicht der einzelne Anspruch aus dem einheitlichen Sachverhalt steht im Vordergrund derselben Rechtssache, sondern die Identität des einheitlichen Lebensverhältnisses selbst.[28] Von derselben Rechtssache kann daher nicht nur gesprochen werden, wenn es sich um dasselbe Verfahren und dieselben Parteien handelt; vielmehr kann auch dieselbe Rechtssache vorliegen, wenn in Verfahren verschiedener Art und verschiedener Zielrichtung ein- und derselbe Sachverhalt rechtliche Bedeutung erlangt.[29] Dabei wird die Einheitlichkeit der Lebenssachverhalte auch nicht durch einen längeren Zeitablauf, den Wechsel der beteiligten Personen oder eine zwischenzeitliche Wandlung des Rechtsverhältnisses, z.B. nach einem Prozessvergleich oder einer gütlichen Einigung, aufgehoben.[30]

 

Rz. 15

Schließlich genügt bereits für das Vorliegen derselben Rechtssache die Teilidentität der Sachverhalte. So hat der Anwaltsgerichtshof NRW jüngst hierzu ausgeführt:

Zitat

"Wenn auch in § 43a BRAO nicht wie in § 3 BORA, § 356 StGB von "derselben Rechtssache" die Rede ist, so ist dem berufsrechtlichen Begriff der "widerstreitenden Interessen" deren Ableitung aus einem zumindest teilweise identischen Lebenssachverhalt immanent. Überschneiden sich die von den verschiedenen Mandanten unterbreiteten Sachverhalte mit den daraus resultierenden materiellen Rechtsverhältnissen auch nur teilweise, darf der Rechtsanwalt die sich daraus ergebenden rechtlichen Interessen nicht gegenläufig wahrnehmen. Es reicht also aus, wenn sich die Interessenkreise der Mandanten teilweise überschneiden, so dass im gleichen Lebenssachverhalt der Rechtsanwalt nicht für beide Seiten tätig werden darf."[31]

Insbesondere im Erbrecht wird von der Klammerwirkung des vom Erbfall bestimmten Nachlassbestandes gesprochen, soweit sich die Mandate zumindest teilweise sachlich-rechtlich decken.[32]

 

Rz. 16

In zeitlicher Hinsicht endet die anvertraute Angelegenheit nicht mit dem Ende des Mandats, sofern dem Rechtsanwalt einmal eine Angelegenheit anvertraut wurde.[33] Die anvertraute Angelegenheit bleibt auch für die Zukunft bestehen, wodurch der Rechtsanwalt nicht in derselben Rechtssache dem nunmehrigen Gegner seines früheren Auftraggebers Rat und Beistand gewähren darf, sofern der anvertraute Verfahrensstoff bei einem anderen Auftragsverhältnis wieder rechtliche Bedeutung erlangt.[34]

 

Rz. 17

Abschließend kann für die Definition "derselben Rechtssache" auf die von Offermann-Burckart entwickelte und gängige Formel zurückgegriffen werden:

Zitat

"Dieselbe Rechtssache ist ein ein- oder mehrschichtiger Lebenssachverhalt, der angesichts der ihn begründenden historischen Tatsachen und/oder der an ihm beteiligten Personen ganz oder in Teilen nur einer einheitlichen juristischen Betrachtung zugeführt werden kann."[35]

Die Formel ist in der Literatur[36] und Rechtsprechung[37] anerkannt und enthält die wesentlichen Merkmale des Tatbestandsmerkmals.

[24] BGH NJW 2013, 1247; BGH NJW 2008, 2723; 2724; Kleine-Cosack, § 43a BRAO Rn 142.
[25] BGHSt 5, 301, 304; BGHSt 34, 190 = NJW 1987, 335; Fischer, § 356 StGB Rn 5.
[26] Weyland/Träger, § 43a BRAO Rn 61.
[27] OLG München NJW 1997, 1313; Kleine-Cosack, § 43a BRAO Rn 142.
[28] Henssler/Prütting/Henssler, § 43a BRAO Rn 200.
[29] BGHSt 5, 301, 304; BGHSt 34, 190 = NJW 1987, 335.
[30] BGHSt 5, 301, 304; BGHSt 7, 261; Fischer, § 356 StGB Rn 5; Henssler/Prütting/Henssler, § 43a BRAO Rn 200.
[31] AGH NRW, Beschl. v. 5.4.2019 – 2 AGH 21/18, BeckRS 2019, 46846.
[33] BGHSt 34, 190 = NJW 1987, 335.
[34] BGHSt 18, 192, 193; BGHSt 34, 190 = NJW 1987, 335.
[35] Offermann-Burckart, AnwBl 2008, 446, 447 f.; dies., AnwBl Online 2018, 200, 201.
[36] Vgl. Hirtz, NJW 2019, 2265.

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