Rz. 68

Die lebhafte Diskussion in Rechtsprechung und Literatur um die Einsicht in die "Lebensakte" des verwendeten Messgerätes wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2020 zumindest auf die wesentlichen Aspekte reduziert.

Gem. § 31 MessEG sind nämlich sämtliche Eingriffe am Messgerät mindestens für drei Monate, längstens für fünf Jahre über die Eichfrist hinaus aufzubewahren. Dies gilt bereits dem Wortlaut nach für alle Geräte, nicht nur für geeichte.[152] Die Nachweise müssen den Grund des Eingriffs erkennen lassen – die bloße Instandsetzerbenachrichtigung des § 37 Abs. 5 Nr. 3 MessEG genügt nicht.[153] Die Aufbewahrungsfristen sind also gesetzlich festgelegt, jedoch gibt es keine Pflicht, alle angefallenen Nachweise dauerhaft zu sammeln.[154]

 

Praxistipp

Die verbreitete Begrifflichkeit "Lebensakte" führte zu einem Scheinargument, nachdem die PTB[155] und etliche Gerichte[156] hierunter eine dauerhafte Speicherung aller Eingriffe verstehen wollen. Dem kann die Verteidigung jedoch leicht begegnen, indem der Begriff gemieden wird und einfach der Wortlaut der Norm bemüht wird, nämlich die Auskunft über Wartungen, Reparaturen oder sonstige Eingriffe am Messgerät i.S.d. § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG.

 

Rz. 69

Zudem argumentiert die PTB[157] damit, dass die Nachweise über Eingriffe am Gerät allein für die Eichbehörde bestimmt sein sollen. Zum anderen sagten die Nachweise "eigentlich gar nichts" über die Messrichtigkeit aus, denn nach erfolgter Instandsetzung würde das Gerät ja wieder von der PTB geeicht werden. Dennoch werde "von interessierten Kreisen" vermehrt behauptet, dass nun eine sogenannte "Lebensakte" zu führen sei.

Wenngleich ein Mehraufwand der Behörden bezüglich Anfragen zu zwischenzeitlich erfolgten Reparaturen oder Wartungen sicherlich als Belastung angesehen wird, sind dennoch die gesetzlichen Vorgaben einzuhalten. Ungeachtet der Begrifflichkeiten formuliert § 37 Abs. 1 MessEG die klare Anforderung an die Verwender, Nachweise über Eingriffe am Gerät zu führen. Weder im Gesetz, noch in der Gesetzesbegründung wird diese Nachweispflicht als reines Behördeninternum statuiert.[158] Dass die Länge der Aufbewahrungsfrist an der Prüfmöglichkeit der Eichbehörde festgemacht wird, ändert hieran nichts. Auch lässt die Überprüfung der Eichsiegel die Beantwortung der Frage nicht entfallen, ob zwischenzeitlich Reparaturen durchgeführt worden sind.[159]

 

Rz. 70

Nunmehr hat das Verfassungsgericht klargestellt, dass die Verteidigung grundsätzlich einen Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Behörde vorhandenen Informationen hat.[160] Der Anspruch findet seine Grenzen in zeitlicher Hinsicht, wenn hierdurch eine erhebliche Verfahrensverzögerung eintritt und in sachlicher Hinsicht, wenn die Information in keinem Zusammenhang zum konkreten Tatvorwurf steht oder erkennbar irrelevant ist. Maßgeblich ist hierbei allein die Perspektive der Verteidigung: Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und schließlich die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung gerade in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind.[161] Fraglich bleibt bis zur Klärung durch den BGH, ob die Tatgerichte die Frage der Relevanz mit einer Beurteilung durch die PTB selbst klären können oder ob die Einschätzung der Relevanz quasi ureigene Einschätzung der Verteidigung ist und dem Auskunftsersuchen somit stets stattzugeben ist. Bis zur Klärung dieser Frage wird im Zweifel eine Aussetzung des Verfahrens angezeigt sein.[162]

 

Rz. 71

 

Praxistipp

Hier gilt es also rechtzeitig vor der Hauptverhandlung bei der Behörde Auskunft über Unterlagen i.S.d. § 31 MessEG für das konkrete Messgerät zu beantragen. Wird die Auskunft verweigert, ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. § 62 OWiG zu stellen. Bleibt die Auskunft bis zur Gerichtsverhandlung aus, sind die Aussetzung des Verfahrens (schriftlich!) zu beantragen und der sachliche Zusammenhang und die Relevanz der Auskünfte für den konkreten Messvorgang zu begründen.

Die Praxis[163] – aber auch bereits der Wortlaut des § 31 MessEG – zeigen, dass der Gesetzgeber unerwartet eintretende Gerätefehler grundsätzlich als möglich erachtet hat. Insofern bleibt es der Verteidigung unbenommen, sich über zwischenzeitlich erfolgte Eingriffe zu informieren, um ggf. daran weitere Ermittlungen für mögliche Messfehler anknüpfen zu können. Die Kausalität und Relevanz der Auskünfte wird demnach stets begründet werden.

Hieran ändert auch die "altbekannte" Stellungnahme der PTB vom 31.5.2015 nichts,[164] wonach zum einen Nachweise über Eingriffe am Gerät allein für die Eichbehörde bestimmt sein sollen und diese zum anderen ohnehin "eigentlich gar nichts" über die Messrichtigkeit aussagen. Denn nach erfolgter Instandsetzung würde das Gerät ja wieder von der PTB geeicht werden.

Sobald sich nämlich Unterlagen bei der Bußgeldbehörde befinden, hat die Verteidigung grundsätzlich e...

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