Rz. 2

Vorweg ist auf den Grundsatz der Opportunität hinzuweisen, da dieser das gesamte Bußgeldverfahren als roter Faden durchwirkt. Das Ordnungswidrigkeitenrecht hat eine Erziehungs- und keine Bestrafungsfunktion.[2] Ordnungswidrigkeiten tragen nämlich im Verhältnis zu Straftaten einen niedrigeren Unrechtsgehalt in sich und gefährden die Rechtsordnung weniger. Im Einzelfall kann eine Verfolgung und Ahndung nicht notwendig sein, weshalb es einer flexiblen Handhabe nach pflichtgemäßem Ermessen bedarf.[3] Entsprechend formulieren OWi-Normen bezüglich ihrer Rechtsfolge stets, dass eine Ahndung erfolgen kann, aber nicht muss. Dieser Grundsatz der Opportunität ist zentral in § 47 OWiG normiert. Das Opportunitätsprinzip gilt für das gesamte Bußgeldverfahren. Je nach Verfahrensherrschaft können die Verfolgungsbehörde gem. § 47 Abs. 1 OWiG und das Gericht gem. § 47 Abs. 2 OWiG einstellen, auch das Rechtsbeschwerdegericht.[4] Die Polizei ist nicht Verfolgungsbehörde in diesem Sinne, jedoch wird aus der pflichtgemäßen Erforschung von Ordnungswidrigkeiten in § 53 Abs. 1 OWiG ebenfalls eine Opportunitätsbefugnis abgeleitet.[5]

§ 47 OWiG erfasst nicht nur die Frage, ob eine Ordnungswidrigkeit verfolgt werden soll, sondern auch in welchem Umfang und mit welchem Aufwand – es geht um eine einfache, rasche und summarische Erledigung.[6] Entsprechend müssen Kontrollen nur dort durchgeführt werden, wo es die Verkehrssicherheit und die Verkehrsdisziplin erforderlich machen.[7] Ein willkürliches Handeln ist unzulässig. Die Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten kann allerdings nach Schwerpunkten erfolgen, um erheblichere Verstöße zur Ahndung zu bringen.

Grundsätzlich ist die Einstellung aus Legalitätsgründen vorrangig, namentlich der Freispruch sowie die Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG. Die Prüfungsreihenfolge steht jedoch selbst im behördlichen pflichtgemäßen Ermessen. Sofern nicht absehbar ist, ob eine Verurteilung wahrscheinlich ist, kann die Behörde daher auch nach § 47 OWiG einstellen.[8]

 

Rz. 3

Die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens hat sich selbstverständlich in den gesetzlichen Schranken zu bewegen. Aus dem Willkürverbot und dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG folgt, dass lediglich sachliche Kriterien in die Entscheidung einzustellen sind. Die ständige Verwaltungspraxis sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind einzuhalten. Zudem werden die Beurteilungsspielräume durch Verwaltungsvorschriften konkretisiert.[9] Insbesondere für die in diesem Buch behandelten Verstöße sind die Regelungen der BKatV von Bedeutung.

Von der gleichmäßigen Verwaltungspraxis und den Richtlinien soll nicht ohne Grund abgewichen werden.[10] Dennoch verbietet sich eine schematische Anwendung – es sind stets sämtliche Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen.[11] Entsprechend ist die Verteidigung nach diesen Kriterien auszurichten, Abweichungen vom Regelfall sind herauszuarbeiten.

 

Praxistipp

Bereits beim Erstgespräch sollten mit dem Mandanten die Begleitumstände des Ereignisses erörtert werden und es sollte gezielt nach sachlichen Aspekten gesucht werden, welche den Fall vom Durchschnitt abheben.

 

Rz. 4

Die Verwaltungsbehörde kann nicht nur bei unklarer Sach- und Rechtslage von einer Verfolgung Abstand nehmen, z.B. wenn die Aufklärung erhebliche Schwierigkeiten macht oder wenn eine neue Vorschrift, die verletzt wurde, noch nicht bekannt ist. Das Gleiche gilt, wenn eine Gefährdung bei einer Ordnungswidrigkeit nicht vorliegt oder wenn ein reiner Formalverstoß (z.B. Nichtanhalten vor einem Vorfahrtschild nachts während völlig verkehrsarmer Zeit) erfolgt. Darunter fällt auch eine geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitung bis zu 10 km/h z.B. in der Nachtzeit bei weitgehend leerer Straße.[12] Eine Ahndung ist nicht unbedingt notwendig, wenn die Geschwindigkeitsbeschränkung, etwa an einer Baustelle, zwar erforderlich, die vorgenommene Reduzierung jedoch übertrieben erscheint, die Messung bereits kurz hinter dem Gebotsschild stattfindet und die Überschreitung nicht sehr erheblich ist.[13]

 

Rz. 5

 

Praxistipp

Der Verteidiger sollte in geeigneten Fällen schon bei der Bußgeldbehörde eine Verfahrenseinstellung anregen und dies entsprechend detailliert über den Standardsatz "Es wird angeregt, das Verfahren gegen den Betroffenen einzustellen" hinaus begründen.[14]

 

Rz. 6

Stellt die Verwaltungsbehörde nach Einspruch des Betroffenen das Verfahren ein, so verliert der Bußgeldbescheid seine Wirkung; eine Fortsetzung des Verfahrens ist nur durch Erlass eines neuen Bußgeldbescheides möglich, soweit keine Verjährung eingetreten ist. Im Gegensatz zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde ist eine Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht stets bindend im Umfang des § 211 StPO.[15]

 

Rz. 7

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass das Opportunitätsprinzip nicht nur für die Polizei bzw. die Verfolgungsbehörde, sondern gem. § 47 Abs. 2 OWiG auch für das Gericht gilt – auch für das Beschwerdegericht.[1...

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