Entscheidungsstichwort (Thema)

Anscheinsbeweis im Zivilprozess. Anscheinsbeweis für den Zugang eines Kündigungsschreibens

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Beim Anscheinsbeweis geht es um die Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung durch den Richter im Rahmen der freien Beweiswürdigung. Voraussetzung für die Anwendung des Anscheinsbeweises ist ein sog. typischer Geschehensablauf, also ein sich aus der Lebenserfahrung bestätigender gleichförmiger Vorgang, durch dessen Typizität es sich erübrigt, die tatsächlichen Einzelumstände eines bestimmten historischen Geschehens nachzuweisen.

2. Bei Übersendung eines Kündigungsschreibens per Einwurf-Einschreiben und gleichzeitiger Vorlage des Einlieferungsbelegs spricht der Beweis des ersten Anscheins für den Zugang dieses Schriftstücks beim Empfänger. Denn der feststehende tatsächliche Geschehensablauf führt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem Einwurf der Sendung in den richtigen Briefkasten. Dafür bieten auch die organisatorischen Anweisungen, die die Deutsche Post AG für die Zustellung eines Einwurf-Einschreibens getroffen hat, eine hinreichend sichere Grundlage.

 

Normenkette

ZPO § 256 Abs. 1, § 286; BGB § 130 Abs. 1; KSchG § 4 S. 1, § 7

 

Verfahrensgang

ArbG Elmshorn (Entscheidung vom 22.06.2021; Aktenzeichen 4 Ca 86 e/21)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 22.06.2021 - 4 Ca 86 e/21 -teilweise geändert: Der Klageantrag zu 3) (Feststellungsantrag) wird abgewiesen.

Der Kläger trägt 96 % der Kosten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens sowie die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Beklagte trägt 4 % der Kosten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren nur noch über den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses und insoweit allein um die Frage, ob dem Kläger ein Kündigungsschreiben der Beklagten zugegangen ist.

Der Kläger ist bei der Beklagten auf Grundlage eines schriftlichen Arbeitsvertrags seit August 2017 als Service-Mitarbeiter in einer der von der Beklagten betriebenen Spielhallen beschäftigt. Er wohnt in einer Hochhausanlage mit 10 Stockwerken. Die Briefkastenanlage im Hausflur des Wohnhauses weist ca. 80 Fächer auf. Ganz oben rechts ist der ordnungsgemäß mit seinem Namen versehene Briefkasten des Klägers. Wegen der Einzelheiten wird auf die entsprechenden Fotos in den Anlagen B 8 und B 9 verwiesen (Bl. 53 f. d. Berufungsakte).

Aus Anlass der ersten Schließung der Spielhallen der Beklagten wegen der CoronaPandemie vereinbarten die Parteien für die Zeit vom 01.04.2020 bis zum 31.03.2021, dass die Arbeitszeit des Klägers während der Zeiten einer Betriebsschließung auf 0 Stunden herabgesetzt wird.

Unter dem 26.10.2020 fertigte die Beklagte ein Schreiben, mit dem sie das Arbeitsverhältnis fristgemäß zum 30.11.2020 kündigte (Anlage B 1, Bl. 10 d.A.), adressierte es an die Wohnanschrift des Klägers und gab es am 28.10.2020 als Einwurf-Einschreiben mit der Sendungsnummer R... bei der Post auf. Am 29.10.2020 bestätigte der Postmitarbeiter mit seiner Unterschrift diese Sendung "dem Empfangsberechtigten übergeben bzw. das Einschreiben Einwurf in die Empfangsvorrichtung des Empfängers eingelegt" zu haben (Anlage B 6, Bl. 28 d.A.).

Für den November zahlte die Beklagte an den Kläger bis auf einen erstinstanzlich streitigen Betrag von EUR 173,41 brutto seine reguläre Vergütung, für Dezember 2020 leistete die Beklagte einen Betrag in Höhe von EUR 84,12 als "Nachverrechnung aus Vormonaten". Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 08.01.2021 bat dieser um Übersendung der Abrechnungen für November und Dezember 2020 sowie Auszahlung der noch nicht geleisteten Beträge (Anlage B 1, Bl. 38 d. Berufungsakte). Die Abrechnungen übersandte die Beklagte mit Schreiben vom 12.01.2021.

Mit seiner Klage hat der Kläger, soweit für das Berufungsverfahren von Interesse, den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses geltend gemacht.

Er hat behauptet, er habe keine Kündigung erhalten. Die Abrechnungen habe er erstmals mit dem Schreiben der Beklagten im Januar 2021 bekommen.

Er hat, soweit für das Berufungsverfahren von Interesse, beantragt

...

  1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Beklagten ungekündigt fortbesteht.

Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt.

Sie hat ausgeführt: Das Arbeitsverhältnis der Parteien habe aufgrund der am 29.10.2020 zugestellten Kündigung am 30.11.2020 geendet. Sie habe dem Kläger mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Arbeitszeugnis mit diesem Enddatum ausgestellt (Anlage B 4, Bl. 14 d.A.) und übersandt, ohne dass der Kläger Einwendungen erhoben habe. Gleiches gelte für die von ihr ebenfalls nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses übersandte Abrechnung für November. Es sei daher davon auszugehen, dass der Kläger die Kündigung in seinem Briefkasten vorgefunden habe. Im Übrigen spreche nach der Rechtsprechung des BGH und des LAG Baden-Württemberg ein Anscheinsbeweis für den Zugang der Kündigung. Das...

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