Rz. 52

Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind befugt zu überprüfen, ob der Verordnungsgeber sein normatives Ermessen pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Zweck der Ermächtigung, ausgeübt hat. (BSG, Urteile v. 20.4.1978, 2 RU 79/77; v. 23.3.1999, B 2 U 12/98 R; v. 18.3.2003, B 2 U 13/02 R). Dabei ist – mit Rücksicht auf seine Normsetzungskompetenz – nur zu kontrollieren, ob er Verfassungsrecht (Gleichheitssatz, Verhältnismäßigkeit) und die sonstigen Wertentscheidungen des Grundgesetzes eingehalten hat. Innerhalb dieses Rahmens steht ihm ein weiter Entscheidungsspielraum zu (BSG, Urteil v. 18.11.1997, 2 RU 48/96).

 

Rz. 53

Widerspricht die Bezeichnung der Berufskrankheit höherrangigem Recht, so ist sie nichtig (BSG, Urteile v. 22.2.1996, 12 RK 42/94; v. 29.7.1997, 4 RA 74/95; Rumbel, in: Umbach/Clemens, Mitarbeiterkommentar und Handbuch zum Grundgesetz, 2002, Art. 80 Rz. 62), sofern sie nicht gesetzeskonform ausgelegt werden kann (BSG, Urteile v. 29.10.1980, 9 RV 6/80; v. 7.9.1988, 11 RAr 25/88; BVerwG, Urteile v. 1.3.1996, 8 C 29/94; v. 28.5.1998, 3 C 11/97).Hält es der Versicherungsträger für rechtswidrig, dass der Verordnungsgeber ein bestimmtes Leiden als Berufskrankheit anerkannt hat, so kann er diesen Rechtssetzungsakt keinesfalls mit einer Feststellungsklage isoliert angreifen. Stattdessen muss er die Listenberufskrankheit gegenüber jedem Versicherten im Einzelfall ablehnen. Im nachfolgenden Gerichtsverfahren, das der Versicherte einleiten muss, haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit im Rahmen einer kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage inzident zu prüfen, ob der Verordnungsgeber die Erkrankung zu Recht als Listenberufskrankheit anerkannt hat. Liegt ein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 Satz 2 vor, weist das Gericht die Klage ab.

 

Rz. 54

Bleibt der Verordnungsgeber untätig, lehnt er eine Listenberufskrankheit ausdrücklich ab oder versieht er sie mit einem einschränkenden Listenvorbehalt, so eröffnen sich für die Versicherten – je nach Fallgestaltung – verschiedene Rechtschutzmöglichkeiten: Liegen neue Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vor, die der Verordnungsgeber noch nicht kannte als er die Berufskrankheitenliste zum letzten Mal änderte, ist das Leiden – sofern die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 vorliegen – als sog. Wie-Berufskrankheit anzuerkennen.

 

Rz. 55

Hat der Verordnungsgeber das Leiden als Listenberufskrankheit ohne sachlichen Grund abgelehnt oder die anerkannte Berufskrankheit willkürlich durch einen Listenvorbehalt eingeschränkt, liegt also ein Verstoß gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgebot vor (Art. 3 Abs. 1 GG), so sind verschiedene Fallkonstellationen zu unterscheiden: Schließt die Berufskrankheit eine bestimmte Personengruppe ermessenswidrig aus, erklärt das Instanzgericht diesen Ausschluss für nichtig (BVerfG, Urteil v. 20.3.1952, 1 BvL 12/51 u. a.; Entscheidung v. 28.1.1970, 1 BvL 8/68, 1 BvL 19/68; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rn 767). Ist eine Listenberufskrankheit hingegen lückenhaft, weil sie eine bestimme Personengruppe ermessensfehlerhaft ausgrenzt, dehnt das Gericht den Tatbestand auf dieses Personengruppe aus (BVerfG, Beschluss v. 28.11.1967, 1 BvR 515/63). Dies setzt freilich voraus, dass der verfassungswidrige Teil mit den übrigen Tatbestandsvoraussetzungen nicht untrennbar verbunden ist. Existieren mehrere Wege, den Gleichheitsverstoß zu beheben, so stellt das Gericht lediglich fest, dass die Norm verfassungswidrig ist und setzt das Verfahren aus, bis der Verordnungsgeber den Fall verfassungskonform geregelt hat (BVerfG, Beschlüsse v. 11.6.1958, 1 BvL 149/52; v. 28.11.1967, 1 BvR 515/63; v. 2.3.1999, 1 BvL 7/91; Urteil v. 6.3.2002, 2 BvL 17/99). Denn die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind nicht befugt, in den weiten Gestaltungsspielraum des Verordnungsgebers einzugreifen.

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