Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitgeber - Zahlungsunfähigkeit - Teilzahlung - Gesamtsozialversicherungsbeitrag - vorrangige Tilgung der Arbeitnehmeranteile - Unvereinbarkeit des § 2 BeitrZV mit § 266a Abs 1 StGB

 

Leitsatz (redaktionell)

Soweit der Arbeitgeber nach § 2 der Beitragszahlungsverordnung bei einer Teilzahlung auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag nicht bestimmen darf, daß zuerst die Arbeitnehmeranteile getilgt werden, ist diese Vorschrift mit § 266a Abs 1 des Strafgesetzbuchs, der das Vorenthalten von Beiträgen des Arbeitnehmers unter Strafe stellt, unvereinbar.

 

Normenkette

BGB § 367; BeitrZV § 2; SGB IV § 28d; BGB § 366 Abs. 1; StGB § 266a Abs. 1; SGB IV § 28n Nr. 2 Fassung 1988-12-20; SGB IV § 28n S. 1 Nr. 2 Fassung 1995-12-15

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 09.09.1993; Aktenzeichen L 5 K 13/93)

SG Speyer (Entscheidung vom 15.12.1992; Aktenzeichen S 9 K 132/90)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Arbeitgeber bei Teilzahlungen auf Sozialversicherungsbeiträge bestimmen kann, daß zunächst die Arbeitnehmeranteile getilgt werden.

Die Baugesellschaft U GmbH & Co. KG (im folgenden: Firma) schuldete der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Kaiserslautern Ende Februar 1990 Gesamtsozialversicherungsbeiträge für Dezember 1989 in Höhe von 1.423,56 DM und für Januar 1990 in Höhe von 143.035,22 DM, zusammen mit Säumniszuschlägen, Mahn- und Vollstreckungsgebühren 151.191,56 DM. Nach erfolgloser Zwangsvollstreckung zahlte die Firma der AOK am 1. März 1990 40.000 DM in bar. Auf der hierfür ausgestellten Quittung vermerkte die Prokuristin der Firma: "Diese Akontozahlung dient zur Tilgung der Arbeitnehmeranteile." Mit Bescheid vom 6. März 1990 teilte die AOK der Firma mit, daß eine auf die Arbeitnehmeranteile beschränkte Tilgung unzulässig sei und die 40.000 DM daher auf die vollen Beiträge für Dezember 1989 und Januar 1990 angerechnet worden seien. Am 8. März 1990 überwies die Firma weitere 30.000 DM und am 21. März 1990 nochmals 5.000 DM. Auf den Gutschriften war jeweils vermerkt, daß die "Arbeitnehmerbeiträge" für Januar 1990 getilgt werden sollten. Ebenfalls im März erhob die Firma gegen den Bescheid Widerspruch. Am 25. April 1990 wurde über ihr Vermögen das Konkursverfahren eröffnet. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 1990 wies die AOK den Widerspruch zurück. Nach § 2 der Beitragszahlungsverordnung (BZVO) vom 22. Mai 1989 (BGBl I S 990) stehe dem Arbeitgeber bei Teilzahlungen an die Einzugsstelle ein Bestimmungsrecht über die Reihenfolge der Tilgung nur zwischen den einzelnen Schuldenarten zu. Innerhalb einer Schuldenart, hier den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen, müsse nach Fälligkeit, bei gleichzeitiger Fälligkeit anteilmäßig getilgt werden.

Der Kläger als Konkursverwalter hat Klage erhoben mit dem Antrag, den Bescheid vom 6. März 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. August 1990 aufzuheben und festzustellen, daß die Teilzahlungen von insgesamt 75.000 DM auf die für Dezember 1989 und Januar 1990 geschuldeten Arbeitnehmeranteile an den Beiträgen anzurechnen seien. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage mit Urteil vom 15. Dezember 1992 stattgegeben. Die Firma habe in entsprechender Anwendung der §§ 366 und 367 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) die Tilgung auf die Arbeitnehmerbeiträge beschränken dürfen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der AOK mit Urteil vom 9. September 1993 zurückgewiesen. Weder die gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers, Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile der Beiträge einheitlich zu zahlen, noch die in § 2 BZVO getroffene Regelung schlössen das auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 366 und 367 BGB beruhende und vom Bundesgerichtshof (BGH) bejahte Bestimmungsrecht des Arbeitgebers aus, die Tilgung auf die Arbeitnehmeranteile zu beschränken.

Die Beklagte, die infolge Vereinigung der rheinland-pfälzischen Ortskrankenkassen mit Wirkung vom 1. Januar 1994 Rechtsnachfolgerin der AOK Kaiserslautern geworden ist, rügt mit der Revision eine Verletzung des § 2 BZVO. In der mündlichen Verhandlung am 22. Februar 1996 haben die Beteiligten einen Teilvergleich geschlossen. Danach werden sie hinsichtlich der Zahlungen von 30.000 DM und von 5.000 DM ebenso verfahren, wie sich dies hinsichtlich der Zahlung der 40.000 DM aus der Entscheidung im vorliegenden Revisionsverfahren ergibt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG vom 9. September 1993 und das Urteil des SG vom 15.

Dezember 1992 zu ändern sowie die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Wie die Vorinstanzen im Ergebnis zu Recht entschieden haben, durfte die Firma bei der Teilzahlung von 40.000 DM bestimmen, daß zunächst die Arbeitnehmeranteile getilgt werden.

Nachdem zu den Zahlungen von 30.000 DM und 5.000 DM ein Teilvergleich geschlossen wurde, ist Gegenstand des Revisionsverfahrens nur noch der Bescheid vom 6. März 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 1990 sowie der Antrag des Klägers auf Feststellung, daß die am 1. März 1990 gezahlten 40.000 DM nur auf die Arbeitnehmerbeiträge an den Beiträgen anzurechnen seien.

Dem Begehren des Klägers stehen prozessuale Hindernisse nicht entgegen. Insbesondere steht ihm als Konkursverwalter über das Vermögen der genannten Firma die Prozeßführungsbefugnis zu; denn das geltend gemacht Recht, die Reihenfolge der Tilgung zu bestimmen, gehört zum Vermögen dieser Firma, über das gemäß § 6 der Konkursordnung seit der Konkurseröffnung nur noch der Konkursverwalter verfügen kann. Auch waren weder Rentenversicherungsträger noch die Bundesanstalt für Arbeit (BA) noch die Versicherten, für die Beiträge von der Firma entrichtet worden sind, gemäß § 75 Abs 2 Fall 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) notwendig beizuladen, weil ihre Rechtssphäre durch die Entscheidung nicht unmittelbar berührt wird (vgl BSGE 38, 94, 96 = SozR 1500 § 75 Nr 4; BSG SozR 1500 § 75 Nrn 33, 34, 49 und 59; BSGE 59, 30, 31 = SozR 1200 § 48 Nr 10; BSG SozR 3-1500 § 75 Nr 2 mwN).

Mit dem angefochtenen Bescheid durfte die AOK die von der Firma gewünschte Tilgung nicht ablehnen. Die AOK hat § 2 BZVO allerdings zutreffend dahingehend ausgelegt, daß die Reihenfolge der Tilgung innerhalb einer der dort genannten Schuldenarten, hier also innerhalb der Gesamtversicherungsbeiträge, nicht vom Beitragsschuldner bestimmt werden darf.

Diese Vorschrift, die am 1. Juli 1989 in Kraft getreten ist (§ 9 Satz 1 BZVO), hat folgenden Wortlaut: "Schuldet der Arbeitgeber oder ein sonstiger Zahlungspflichtiger Auslagen der Einzugsstelle, Gesamtsozialversicherungsbeiträge, Säumniszuschläge, Zinsen, Geldbußen oder Zwangsgelder, kann er bei der Zahlung bestimmen, welche Schuld getilgt werden soll (Satz 1). Trifft der Arbeitgeber keine Bestimmung, werden die Schulden in der in Satz 1 genannten Reihenfolge getilgt (Satz 2). Innerhalb der gleichen Schuldenart werden die einzelnen Schulden nach ihrer Fälligkeit, bei gleichzeitiger Fälligkeit anteilmäßig getilgt (Satz 3)." Das in Satz 1 dem Arbeitgeber eingeräumte Bestimmungsrecht besteht nur unter den darin genannten Schuldenarten. Diese sind bereits in dem das Bestimmungsrecht einräumenden Satz 1 ausdrücklich aufgezählt. Die Aufzählung wäre, wie etwa der dem § 2 Satz 1 BZVO vergleichbare § 225 Abs 1 der Abgabenordnung (AO) zeigt, in Satz 1 unterblieben, wenn auch ein Bestimmungsrecht innerhalb der gleichen Schuldenart gewollt gewesen wäre. Des weiteren folgt die Beschränkung des Bestimmungsrechts auf die aufgeführten Schuldenarten aus Satz 3 des § 2 BZVO. Diese Bestimmung bezieht sich sowohl auf deren Satz 2 als auch auf deren Satz 1. Hätte der Verordnungsgeber die in Satz 3 enthaltene Regelung nur auf den Fall bezogen, daß der Arbeitgeber keine Bestimmung trifft (Satz 2), hätte er, wie dies vergleichbar in § 225 AO geschehen ist, das Bestimmungsrecht des Arbeitgebers in einem Absatz 1 und die Reihenfolge der Tilgung bei Nichtausübung des Bestimmungsrechts zusammen mit der Tilgung innerhalb der gleichen Schuldenart in einem Absatz 2 geregelt.

Die aufgezeigten Abweichungen des § 2 BZVO von § 225 AO sind nicht zufällig, sondern in Kenntnis des Unterschieds zustande gekommen. Wie der Begründung des Entwurfs einer BZVO (BR-Drucks 170/89 zu § 2 S 7) zu entnehmen ist, hat der Verordnungsgeber den § 225 AO in seine Überlegungen eingeschlossen. In der Begründung heißt es ua: "Die Regelung, die auch im Steuerrecht enthalten ist (§ 225 AO), ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Sozialversicherungsrechts im Hinblick auf eine einheitliche Praxis der Krankenkassen geboten." Insbesondere war die sich aus dem Inhalt des § 2 BZVO ergebende Beschränkung des Bestimmungsrechts vom Verordnungsgeber beabsichtigt. So wird in der Begründung des Entwurfs ausgeführt, dem Arbeitgeber stehe bei der Zahlung "grundsätzlich" ein Bestimmungsrecht zu (aaO S 7). An anderer Stelle (aaO S 8) heißt es jedoch: "Eine Aufteilung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags in Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung und zur BA bzw in Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile ist unzulässig."

Auch sprechen gewichtige Gründe dafür, daß der Verordnungsgeber in § 2 BZVO ein Bestimmungsrecht innerhalb der jeweiligen Schuldenart nicht zulassen wollte. So dient die Vorschrift dadurch der Erleichterung des Verwaltungsverfahrens, daß bei Zahlungen auf geschuldete Beiträge, unabhängig davon, ob sie aufgrund des Bestimmungsrechts des Arbeitgebers geleistet wurden oder nicht, zunächst nach der Fälligkeit, bei gleichzeitiger Fälligkeit anteilig getilgt wird. Damit entfällt bei den Einzugsstellen ein besonderer Verwaltungsaufwand etwa dafür, eine Tilgung in der vom Arbeitgeber bestimmten Reihenfolge nach Versicherungszweigen, nach dem Vorrang der jüngeren Forderungen oder nach Arbeitnehmer- oder auch Arbeitgeberanteilen zu berücksichtigen sowie die jeweils verbleibenden restlichen Forderungen zu berechnen. Auch ist vom Verwendungszweck der Beiträge her gesehen im allgemeinen kein Grund vorhanden, dem Arbeitgeber einen Einfluß darauf einzuräumen, was anschließend mit dem eingezahlten Geldbetrag geschieht und welche weiteren Rechtsfolgen die Zahlung hat. Schließlich trägt § 2 BZVO dem Umstand Rechnung, daß mit Wirkung vom 1. Januar 1989 die Beiträge für die versicherungs- und beitragspflichtigen Arbeitnehmer zu einem Gesamtsozialversicherungsbeitrag zusammengefaßt worden sind (§ 28d Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung ≪SGB IV≫), der eine einheitliche Grundlage für die Beitragszahlung des Arbeitgebers bildet.

Obgleich damit § 2 BZVO in dem Sinne auszulegen ist, daß innerhalb der Gesamtsozialversicherungsbeiträge kein Bestimmungsrecht des Arbeitgebers besteht, durfte hier die Firma wirksam bestimmen, daß zunächst die Arbeitnehmeranteile an den Beiträgen getilgt werden. § 2 BZVO ist nämlich nichtig, soweit er eine Bestimmung des Arbeitgebers, geleistete Teilbeträge zuerst auf die Arbeitnehmeranteile anzurechnen, nicht zuläßt. Denn insoweit ist § 2 BZVO nicht mit der bundesgesetzlichen Vorschrift des § 266a Abs 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) zu vereinbaren. Ihm ist auch in seiner gesetzlichen Ermächtigung (§ 28n Satz 1 Nr 2 SGB IV; vor dem 23. Dezember 1995: § 28n Nr 2 SGB IV) kein Vorrang vor der genannten Strafvorschrift eingeräumt worden.

Nach Abs 1 des § 266a StGB, der durch Art 1 Nr 5 des Zweiten Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (2. WiKG) vom 15. Mai 1986 (BGBl I 721) mit Wirkung vom 1. August 1986 neu in das StGB aufgenommen worden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer als Arbeitgeber Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung oder zur BA der Einzugsstelle vorenthält. Nach Abs 5 kann das Gericht in den Fällen des Abs 1 von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn der Arbeitgeber spätestens im Zeitpunkt der Fälligkeit oder unverzüglich danach der Einzugsstelle schriftlich die Höhe der vorenthaltenen Beiträge mitteilt und darlegt, warum die fristgemäße Zahlung nicht möglich ist, obwohl er sich darum ernsthaft bemüht hat (Satz 1). Liegen die Voraussetzungen des Satzes 1 vor und werden die Beiträge dann nachträglich innerhalb der von der Einzugsstelle bestimmten angemessenen Frist entrichtet, wird der Täter insoweit nicht bestraft (Satz 2).

Mit "Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung oder zur BA" sind in § 266a Abs 1 StGB nur die Beitragsteile gemeint, die grundsätzlich der Beschäftigte zu tragen hat. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift (vgl Begründung zu Art 1 Nr 5 § 266a StGB des Regierungsentwurfs des WiKG, BT-Drucks 9/2008 S 25-29) und ist in Rechtsprechung und Literatur unbestritten (vgl BGH NJW-RR 1989, 1185; BGH wistra 1994, 193; BayObLG JR 1988, 477 mwN; Schönke-Schröder-Lenckner, Strafgesetzbuch, Komm, 24. Aufl 1991, § 266a RdNr 4; Bente, Die Strafbarkeit des Arbeitgebers wegen Beitragsvorenthaltung und Veruntreuung von Arbeitsentgelt, Frankfurt am Main 1992, S 40; Tag, Das Vorenthalten von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozial- und Arbeitslosenversicherung, Heidelberg 1994, S 80). Demgegenüber ist das Nichtabführen von Beitragsteilen, die grundsätzlich vom Arbeitgeber zu tragen sind, nicht strafbar und auch vor dem Inkrafttreten des § 266a StGB nicht strafbar gewesen. In der gesetzlichen Rentenversicherung wurde nach § 1429 der Reichsversicherungsordnung (RVO), § 151 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und § 235 Abs 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) zwar auch das Nichtabführen fällig gewordener Arbeitgeberanteile als Ordnungswidrigkeit geahndet. Diese Vorschriften sind aber mit Wirkung vom 1. Januar 1989 durch Art 2 Nr 1, Art 3 Nr 1 und Art 4 Nr 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2330) ersatzlos gestrichen worden.

Die unterschiedliche Behandlung bei der Nichtabführung fälliger Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht läßt es als zweifelhaft erscheinen, ob das Interesse der Solidargemeinschaft an der Sicherstellung des Sozialversicherungsaufkommens, das in erster Linie von § 266a Abs 1 StGB geschützte Rechtsgut ist, wie dies im Bericht des Rechtsausschusses zum Entwurf des 2. WiKG angenommen wird (BT-Drucks 10/5058 zu Art 1 Nr 5 S 31; so auch Schönke-Schröder-Lenckner; aaO § 266a RdNr 2 mwN). Wenn auch nach § 266a Abs 1 StGB - anders als nach den vorher geltenden entsprechenden Strafnormen (§§ 529 und 1428 RVO, § 150 AVG, § 234 RKG, § 225 des Arbeitsförderungsgesetzes ≪AFG≫) - ein der Vorenthaltung vorangehendes Einbehalten oder Erhalten von Beitragsanteilen nicht mehr zum Straftatbestand gehört und damit das Vorenthalten von Arbeitnehmerbeiträgen auch bei einvernehmlicher Schwarzarbeit strafbar ist, ist das geschützte Rechtsgut doch in erster Linie der vom Arbeitgeber treuhänderisch verwaltete Arbeitnehmeranteil, der vor bestimmungswidriger Verwendung geschützt werden soll. Das "Einbehalten" oder "Erhalten" (von Arbeitnehmeranteilen) ist nämlich nur deshalb nicht in den Tatbestand des § 266a Abs 1 StGB aufgenommen worden, weil es dem Gesetzgeber wegen des grundsätzlich in jeder Auszahlung von Arbeitsentgelt liegenden stillschweigenden Vorabzugs der Arbeitnehmeranteile entbehrlich erschien. Nach seiner Auffassung stimmte der Vorschlag, im Tatbestand des geplanten § 266a Abs 1 StGB nur auf die Beiträge des Arbeitnehmers abzustellen, im Kern mit der Auslegung überein, welche die Rechtsprechung zum Begriff des Einbehaltens entwickelt hatte (so die genannte Begründung des Regierungsentwurfs eines 2. WiKG zu Art 1 Nr 5 S 28).

Hat aber der Gesetzgeber den Arbeitnehmeranteil des Beitrags durch den Straftatbestand des § 266a Abs 1 StGB in besonders nachhaltiger Weise vor untreueähnlichen Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers geschützt, darf der Verordnungsgeber wegen seiner Bindung an das Gesetz (vgl Art 20 Abs 3 Grundgesetz ≪GG≫) nichts bestimmen, was dem Arbeitgeber die Erfüllung der strafbewehrten Verpflichtung erschwert, sofern er nicht durch Gesetz ausdrücklich dazu verpflichtet oder ermächtigt ist.

Die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage des § 2 BZVO sieht dergleichen nicht vor. Die Verordnungsvorschrift beruht auf Nr 2 (seit dem 23. Dezember 1995: Satz 1 Nr 2) des § 28n SGB IV, der durch Art 1 Nr 5 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2330) mit Wirkung vom 1. Januar 1989 in das SGB IV eingefügt worden ist. Danach wird der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen, zu welchem Zeitpunkt die Beiträge als eingezahlt gelten, in welcher Reihenfolge eine Schuld getilgt wird und welche Zahlungsmittel verwendet werden dürfen. Auch wenn man diese Vorschrift unter Heranziehung der vom Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aufgestellten Grundsätze auslegt, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Ermächtigungsvorschrift nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen, aus ihrem Sinnzusammenhang mit anderen Vorschriften des Gesetzes und aus dem von der gesetzlichen Regelung insgesamt verfolgten Ziel unter Heranziehung der Entstehungsgeschichte des Gesetzes ermittelt werden können (BVerfGE 7, 267, 272; 26, 16, 27; 29, 198, 210; 55, 202, 226; 62, 203, 210; 85, 97, 105), läßt sich unter den zur Auslegung des § 28n Satz 1 Nr 1 SGB IV heranzuziehenden Gesetzesvorschriften des Sozialversicherungsrechts keine Regelung finden, nach der der Verordnungsgeber von der sich aus § 266a Abs 1 StGB ergebenden Pflicht abweichen darf, der Tilgung des Arbeitnehmeranteils keine erheblichen Hindernisse entgegenzusetzen.

Auch § 266a Abs 1 StGB selbst läßt eine solche Abweichung nicht zu. In dieser Vorschrift ist nicht näher bestimmt, was unter "Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung oder zur BA" zu verstehen ist. Dieses ist vielmehr dem Recht der Sozialversicherung und dem AFG zu entnehmen. Demnach müssen insbesondere die Beitragsansprüche nach den Vorschriften über die Versicherungspflicht der Arbeitnehmer in der Krankenversicherung, der Rentenversicherung sowie nach den Vorschriften über die Beitragspflicht dieses Personenkreises nach dem AFG entstanden und zusammengefaßt als Gesamtsozialversicherungsbeitrag fällig geworden sein. Weiterhin sind die jeweiligen Vorschriften über die beitragspflichtigen Einnahmen, den Beitragssatz und den Arbeitnehmeranteil zu beachten. Schließlich kommt es bei der Prüfung, ob Arbeitnehmerbeiträge vorenthalten worden sind, auch auf die Vorschriften über die Tilgung der Beiträge und in diesem Zusammenhang auch auf die Reihenfolge der Tilgung an. Wird nach der hier von der Firma gewünschten Reihenfolge getilgt und in Höhe der geschuldeten Arbeitnehmeranteile gezahlt, sind Ansprüche auf Beiträge bzw Beitragsanteile des Arbeitnehmers erloschen, können Arbeitnehmerbeiträge demnach nicht iS des § 266a Abs 1 StGB nach Eintritt der Fälligkeit vorenthalten werden. Wird demgegenüber nach der Reihenfolge des § 2 Satz 3 BZVO getilgt und zahlt der Arbeitgeber einen gleich hohen Betrag wie bei vorrangiger Tilgung der Arbeitnehmeranteile, wird in der Regel nur die Hälfte dieser Anteile getilgt mit der Folge, daß nach Eintritt der Fälligkeit hinsichtlich der anderen Hälfte ein strafbares Vorenthalten von Arbeitnehmerbeiträgen in Betracht kommt.

§ 266a StGB schließt jedoch eine Rechtsfolge im letzteren Sinne aus. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, daß sich bei Straftatbeständen einzelne Voraussetzungen der Straftat nicht aus der Strafnorm selbst, sondern aus Rechtsbereichen außerhalb des Strafrechts ergeben (vgl zur Zulässigkeit sogenannter Blankettgesetze: BGHSt 20, 177). Das BVerfG hat es als verfassungsgemäß angesehen, daß die Spezifizierung eines Straftatbestandes von Blankettgesetzen auch auf den Verordnungsgeber delegiert werden kann, sofern hinreichend deutlich wird, worauf sich die Verweisung bezieht (BVerfGE 48, 55; 51, 60, 74). Wenn daher etwa der Beitragssatz der Krankenkasse oder der der Rentenversicherung erhöht wird und dadurch objektiv eine Verschärfung des Straftatbestandes eintritt, ist dies nicht unzulässig, denn die Zweckbestimmung des § 266a Abs 1 StGB, treuhänderisch eingezogene oder verwaltete Arbeitnehmerbeiträge dem gesetzlichen Verwendungszweck zuzuführen, wird davon nicht berührt. Anders ist es aber, wenn gemäß § 2 BZVO der geschuldete Arbeitnehmeranteil nur getilgt werden kann, sofern zuvor ein früher fällig gewordener Arbeitgeberanteil getilgt worden ist. Dies hätte zur Folge, daß ein Arbeitgeber, der rechtzeitig einen Betrag in Höhe der geschuldeten Arbeitnehmerbeiträge an die Einzugsstelle zahlt, diese nur zur Hälfte tilgen könnte. Hinsichtlich der anderen Hälfte wäre er der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Solches aber läßt § 266a Abs 1 StGB nicht zu, denn damit wäre im Ergebnis auch ein strafgesetzlicher Schutz des Arbeitgeberanteils geschaffen worden. Dies aber würde der Zweckbestimmung des § 266a Abs 1 StGB zuwiderlaufen. Aber auch dann, wenn der Arbeitgeber den Betrag in Höhe der geschuldeten Arbeitnehmerbeiträge nach Eintritt der Fälligkeit, also in einem Zeitpunkt zahlt, in dem die Straftat iS des § 266a Abs 1 StGB bereits vollendet ist, wäre eine Anrechnung auf andere Schulden als die Arbeitnehmerbeiträge nicht mit der genannten Vorschrift zu vereinbaren, weil damit die vom Arbeitgeber beabsichtigte Beendigung der Straftat verhindert und ihm die Möglichkeit erschwert würde, durch eigenes Verhalten auf eine mildere Bestrafung oder auf ein Absehen von Strafe (§ 60 StGB) hinzuwirken.

Da der Verordnungsgeber an das Gesetz gebunden ist, gebührt bei der Kollision eines Gesetzes mit einer Rechtsverordnung stets dem Gesetz der Vorrang. Soweit die Rechtsverordnung daher gegen ein Gesetz verstößt, ist sie von den Gerichten bei der Rechtsanwendung als nichtig zu behandeln. Das gilt hier für § 2 BZVO, soweit er entgegen § 266a Abs 1 StGB nicht zuläßt, daß zuerst der Arbeitnehmeranteil getilgt wird. Ob die Nichtigkeit der Verordnungsvorschrift auch daraus abzuleiten ist, daß § 266a Abs 1 StGB bei der Auslegung der Ermächtigungsnorm des § 28n Satz 1 Nr 2 SGB IV mit heranzuziehen ist und demgemäß die Nichtigkeit auch wegen unzutreffender Anwendung der Ermächtigungsgrundlage eintritt (Art 80 Abs 1 Satz 2 GG), läßt der Senat offen.

Als Folge der teilweisen Nichtigkeit kann der Arbeitgeber sein Verlangen, daß die Arbeitnehmeranteile zuerst getilgt werden, auf den verbleibenden Inhalt des § 2 BZVO stützen. Denn die Vorschrift räumt ihm grundsätzlich ein Bestimmungsrecht ein. Nicht dieses, sondern dessen Einschränkung, nämlich Arbeitnehmeranteile nicht losgelöst von den Arbeitgeberanteilen tilgen zu dürfen, werden von der Nichtigkeit erfaßt. Ist diese Einschränkung infolge der Nichtigkeit unbeachtlich, gilt die grundsätzliche Regelung. Damit aber entspricht der Rechtszustand nach Inkrafttreten des § 2 BZVO (1. Juli 1989) im wesentlichen dem Rechtszustand davor. Damals bestand keine sozialrechtliche Vorschrift dazu, in welcher Reihenfolge der Arbeitgeber Beitragsansprüche tilgen konnte. Diese Regelungslücke ist von der Rechtsprechung durch eine entsprechende Anwendung des § 366 BGB (Anrechnung der Leistung auf mehrere Forderungen) und des § 367 BGB (Anrechnung auf Zinsen und Kosten) geschlossen worden. Insbesondere folgte danach aus der entsprechenden Anwendung des § 366 Abs 1 BGB, daß der Arbeitgeber bei Teilzahlungen auf die Beitragsschuld wirksam bestimmen konnte, daß zuerst die Arbeitnehmerbeiträge getilgt werden (so BGH NJW 1985, 3064 mwN; BGH NJW-RR 1989, 1186; BGH NJW 1991, 2917; BayObLG JR 1988, 477; vgl auch Schönke-Schröder-Lenckner, aaO § 266a RdNr 10a).

Somit durfte die Firma nach § 2 BZVO wirksam bestimmen, daß die geschuldeten Beiträge vor den sonstigen Schulden (Säumniszuschläge, Mahn- und Vollstreckungsgebühren), wegen § 266a Abs 1 StGB aber auch, daß innerhalb der Gesamtsozialversicherungsbeiträge zuerst die Arbeitnehmeranteile getilgt werden.

Der Senat brauchte nicht zu entscheiden, ob § 2 BZVO auch insoweit nichtig ist, als bei Nichtausübung des Bestimmungsrechts durch den Arbeitgeber nach seinem Satz 2 iVm Satz 1 zunächst die Auslagen der Einzugsstelle getilgt werden, denn die Firma hat hier ihr Bestimmungsrecht wirksam ausgeübt. Der Senat hat auch nicht darüber zu befinden, wie künftig eine Übereinstimmung zwischen § 2 BZVO und § 266a Abs 1 StGB hergestellt wird. Dieses könnte durch ein Bestimmungsrecht des Arbeitgebers hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile in § 2 BZVO oder dadurch geschehen, daß der Gesetzgeber § 266a Abs 1 StGB dahin ändert oder ergänzt, daß das Vorenthalten von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen insgesamt unter Strafe gestellt wird.

Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE 78, 20

BSGE, 20

DB 1996, 2503-2504 (LT1)

NJW 1997, 150

NJW 1997, 150 (L)

RegNr, 22452 (BSG-Intern)

DOK 1996, 301 (T)

KTS 1996, 471-477 (LT)

USK, 9603 (LT1)

WzS 1996, 343 (K)

EzBAT § 36 BAT, Nr 13 (ST1)

SozR 3-2400 § 28n, Nr 1

SozSich 1996, 436 (K)

Breith. 1997, 9

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