Bei erkennbaren personen-, verhaltens- und betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits-, Dienst- und Ausbildungsverhältnis, die zur Gefährdung des Arbeitsverhältnisses führen können, ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Schwierigkeiten und alle in Betracht kommenden inner- und außerbetrieblichen Möglichkeiten zu ihrer Beseitigung mit den innerbetrieblichen Funktionsträgern und dem Integrationsamt zu erörtern (sog. Präventionsverfahren).[1] Ziel des Präventionsverfahrens ist die möglichst dauerhafte Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses. Die Durchführung des Präventionsverfahrens ist aber keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung mit der Folge, dass eine Kündigung grundsätzlich nach § 167 Abs. 1 SGB IX unwirksam wäre, wenn ein Präventionsverfahren vor ihrem Ausspruch nicht durchgeführt worden ist.[2] Ebenso wenig stellt allerdings § 167 Abs. 1 SGB IX eine reine Ordnungsvorschrift mit bloßem Appellativcharakter dar, deren Missachtung in jedem Fall folgenlos bliebe. Die Vorschrift ist eine Konkretisierung des dem gesamten Kündigungsschutzrecht innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.[3] Eine Kündigung ist danach nur erforderlich (ultima ratio), wenn sie nicht durch mildere Maßnahmen zu vermeiden ist. Solche Maßnahmen können beim Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten Menschen die in § 167 Abs. 1 SGB IX genannten Möglichkeiten und Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Hilfen darstellen. Das Gesetz mutet dem Arbeitgeber grundsätzlich zu, mithilfe der genannten Stellen frühzeitig zu prüfen, ob und wie eine Gefährdung des Arbeitsverhältnisses und damit letztlich der Ausspruch einer Kündigung vermieden werden kann. Eine Kündigung kann damit wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip als sozial ungerechtfertigt zu beurteilen sein, wenn bei gehöriger Durchführung des Präventionsverfahrens Möglichkeiten bestanden hätten, die Kündigung zu vermeiden. Im Umkehrschluss steht das Unterbleiben des Präventionsverfahrens einer Kündigung dann nicht entgegen, wenn die Kündigung auch durch das Präventionsverfahren nicht hätte verhindert werden können. Ist das Integrationsamt nach eingehender Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Zustimmung zur Kündigung zu erteilen ist, kann nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX hätte die Kündigung verhindern können.[4]

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz findet jedoch außerhalb des Geltungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes, d. h. bei einer Kündigung innerhalb der 6-monatigen Wartezeit des § 1 KSchG, bei der Prüfung der Wirksamkeit einer Kündigung keine Anwendung.[5]

Es ist fraglich, ob diese inzwischen langjährige Rechtsprechung für die Wartezeitkündigung von (schwer-)behinderten Menschen unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten einer Modifizierung bedarf. Aus Art. 5 der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG[6] folgt die Verpflichtung des Arbeitgebers, bei der Beschäftigung eines Menschen mit Behinderung angemessene Vorkehrungen zu treffen, die bei Auftreten einer Schwierigkeit eine weitere möglichst dauerhafte Beschäftigung ermöglichen. Nach der Entscheidung des EuGH vom 10.2.2022[7] besteht eine entsprechende Verpflichtung des Arbeitgebers schon in der Probezeit/Wartezeit. Die Frage, wie sich die verbindliche Auslegung von Art. 5 der RL 2000/78/EG auf das deutsche Schwerbehinderten- und Kündigungsrecht auswirkt, ist noch nicht höchstrichterlich entschieden. In der Literatur wird teilweise eine Ausweitung des Kündigungsschutzes angenommen. Die Probezeit verliere im Arbeitsverhältnis den Zweck, die Geeignetheit des Arbeitnehmers für den Arbeitsplatz zu prüfen und gegebenenfalls das Arbeitsverhältnis einfacher aufzulösen.[8]

Nach einer aktuellen Entscheidung des ArbG Köln sollen Arbeitgeber – entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BAG – in unionsrechtskonformer Auslegung auch während der 6-monatigen Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG verpflichtet sein, ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen.[9] Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung indizierte eine verbotene Diskriminierung und habe gemäß § 134 BGB i. V. m. § 164 Abs. 2 SGB IX die Rechtsunwirksamkeit einer Wartezeitkündigung zur Folge. Wenn man dem folgt, ergäbe sich bei Menschen mit Behinderungen, die nicht schwerbehindert oder diesen gleichgestellt sind, die Unwirksamkeit einer Wartezeitkündigung aus dem allgemeinen Benachteiligungsverbot.[10]

[6] Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, L 303 v...

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