Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob dem Kläger Leistungen zur beruflichen Rehabilitation zustehen, obwohl die von ihm gewählte Umschulung zum Glasapparatebauer in Vollzeitform drei Jahre in Anspruch nimmt.

Der 1964 geborene Kläger hat den Beruf eines Schlossers erlernt, den er - wie inzwischen anerkannt ist - Ende Juli 1985 aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hat. Er begann im August 1985 mit der dreijährigen Ausbildung an der Staatlichen Glasfachschule H. und stellte am 26. September 1985 den Rehabilitationsantrag, der mit der Begründung abgelehnt worden ist, daß er im Schlosserberuf verbleiben könne (Bescheid vom 10. Dezember 1985 und Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 1986). Im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens, als der Kläger schon mehr als ein Jahr die Schule besuchte, erkannte die Beklagte an, daß aus medizinischen Gründen eine berufliche Rehabilitation erforderlich sei. Nachdem aufgrund weiterer Ermittlungen die Eignung des Klägers für die begonnene Umschulung bejaht und vom psychologischen Dienst auch deren Fortsetzung empfohlen worden war, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. März 1987 (der Kläger hatte die Umschulung zur Hälfte durchlaufen) die Förderung mit geänderter Begründung ab: Die berufliche Rehabilitation müsse innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen werden. Eine Ausnahme komme nicht in Betracht, weil der Kläger auch andere umschulungsgerechte Berufe (Zeitmeßtechniker, Augenoptiker oder Hörgeräteakustiker) hätte erlernen können. Durch seinen vorzeitigen Beginn habe er der Beklagten die Möglichkeit genommen, auf die Rehabilitation Einfluß zu nehmen (so auch Urteil des SG vom 10. Dezember 1987).

In der Berufungsinstanz hatte die Klage Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, dem Kläger die begonnene Umschulung für die Dauer von zwei Jahren ab 19. August 1986 als Leistung der beruflichen Rehabilitation zu gewähren. Entscheidend sei nicht, ob der Kläger schon immer einen Anspruch auf Förderung gehabt habe. Verweigere die Bundesanstalt zu Unrecht Rehabilitationsleistungen und beginne der Antragsteller daher eine Umschulungsmaßnahme, die sich als geeignet und aussichtsreich erweise, könne es ihm nicht zum Nachteil gereichen, daß er aus Eigeninitiative gehandelt habe. Es entspreche dann der Billigkeit und allein pflichtgemäßer Ermessensausübungen, die begonnene Umschulung als Maßnahme i.S. der §§ 36, 47 und 56 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) festzulegen und Förderungsleistungen jedenfalls für die Dauer der letzten beiden Jahre zu gewähren. In diesem Ausnahmefall dürfe die Förderungsdauer geringer sein als die tatsächliche Umschulungsdauer (Urteil vom 10. Juni 1988).

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und eine Verletzung des § 56 Abs. 4 AFG gerügt. Die angefochtene Entscheidung stehe im Widerspruch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung, die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation grundsätzlich auf eine Dauer von zwei Jahren begrenze, wenn - wie es das LSG hier festgestellt habe - auch durch eine zweijährige Umschulungsmaßnahme eine vollständige und dauerhafte berufliche Eingliederung zu erreichen sei. Die Entscheidung lasse überdies außer acht, daß die Maßnahme schon vor Antragstellung begonnen habe. Bei vorzeitigem Beginn einer Maßnahme handele der Rehabilitand auf eigenes Risiko. In dieser Form könne nicht die Förderung einer Ausbildung erzwungen werden, die sonst nicht zu fördern sei. Das Gesetz gebiete, die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten. Teilförderungen könnten nicht gewährt werden, weil nur die vollständige Förderung den Erfolg der Maßnahme gewährleiste.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil zu ändern und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 10. Dezember 1987 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 56 Abs. 1 AFG i.d.F. des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes (RehaAnglG) vom 17. August 1974 (BGBl. I S. 1881) hat der Kläger als Behinderter, für den mangels ausreichender Vorversicherungszeiten nicht der Rentenversicherungsträger zuständig ist, gegen die Beklagte Anspruch auf berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation, also auf die Hilfen, die erforderlich sind, um die Erwerbsfähigkeit der körperlich, geistig oder seelisch Behinderten entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und die Behinderten möglichst auf Dauer beruflich einzugliedern. Dabei sind Eignung, Neigung und bisherige Tätigkeit angemessen zu berücksichtigen. Nach Absatz 4 dieser Vorschrift - unverändert in Geltung seit dem RehaAnglG - sind berufsfördernde Leistungen für die Dauer zu gewähren, die zur Erreichung des Berufsziels vorgeschrieben oder allgemein üblich sind. Leistungen für die berufliche Fortbildung und Umschulung sollen in der Regel nur gewährt werden, wenn die Maßnahme bei ganztägigem Unterricht nicht länger als zwei Jahre dauert, es sei denn, daß eine Eingliederung nur durch eine längerdauernde Maßnahme zu erreichen ist.

Diese Vorschrift ist von der Rechtsprechung als rechtlich bindendes Verbot mit Ausnahmeregelung angesehen worden - aus dem allgemeinen Grundsatz eines durch seine Zweckbestimmung begrenzten Einsatzes der Mittel der Versichertengemeinschaft (so für den Zuständigkeitsbereich der Bundesanstalt für Arbeit: BSG SozSich 1984, 357 = AuB 1985, 26 im Anschluß an die Entscheidungen der Rentensenate in BSGE 46, 198, 200 = SozR 2200 § 1237a Nr. 3; BSGE 49, 263, 265 = SozR 2200 § 1237a Nr. 10; BSGE 50, 184, 186 = SozR 2200 § 1237a Nr. 15; ebenso für den Bereich der Unfallversicherung BSG SozR 2200 § 567 Nr. 4). Im vorliegenden Fall ist der Ausnahmetatbestand erfüllt, weil nach den bindenden Feststellungen des LSG der Neigung und Eignung des Klägers entsprechende angestrebte Beruf, ein Beruf i.S. des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) vom 14. August 1969 (BGBl. I S. 112), nicht in kürzerer Zeit erreicht werden kann. Das BBiG regelt für die Berufsbildung, soweit sie nicht an Schulen durchgeführt wird, die den Schulgesetzen der Länder unterstehen, den für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit notwendigen geordneten Erwerb fachlicher Kenntnisse und Fertigkeiten in einem Ausbildungsgang. Das Gesetz sieht Verkürzungen der Regelausbildungsdauer, insbesondere auch bei beruflicher Umschulung, vor (§§ 25, 29, 47, 49 BBiG). Soweit für einzelne Berufe derartige verkürzte Ausbildungsgänge nicht bestehen, sind i.S. des § 56 Abs. 4 Satz 1 AFG die zur Erreichung des Berufszieles vorgeschriebenen und allgemein üblichen Zeiten einzuhalten und Maßnahmen auch dann zu fördern, wenn sie länger als zwei Jahre dauern. In derartigen Fällen ist eine Eingliederung nur durch die längerdauernde Maßnahme zu erreichen.

Der Senat läßt offen, ob aus der Entstehungsgeschichte des § 56 Abs. 4 AFG = § 13 RehaAnglG gefolgert werden kann, daß die gesetzliche Ausnahme "es sei denn, daß die Eingliederung nur durch eine länger dauernde Maßnahme zu erreichen ist" auf den Fall beschränkt ist, daß zur Eingliederung eines Behinderten überhaupt nur ein Beruf mit dreijähriger Ausbildungs- oder Umschulungsdauer und nicht auch andere Berufe mit nur zweijährigem Zeitaufwand in Betracht kommen. Diese Schlußfolgerung (so in BSGE 49, 263, 265 und BSG SozR 2200 § 567 Nr. 4) ist auch nach der Entstehungsgeschichte nicht zwingend: Im Entwurf hatte es noch geheißen "es sei denn, daß der Behinderte insbesondere wegen Art oder Schwere der Behinderung nur über eine länger dauernde Maßnahme eingegliedert werden kann". Dazu war in der Begründung ausgeführt (BT-Drucks VI/3742 S. 49) : neben Art und Schwere der Behinderung komme auch die Art der Maßnahme als selbständiger Grund für eine Verlängerung der Maßnahmen in Betracht. Damit war das Wort "insbesondere" erläutert. Entsprechend der Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung wurde der "Insbesondere-Zusatz" gestrichen, um klarzustellen, daß die Bewilligung längerfristiger Maßnahmen auch nicht in erster Linie vom Grad der Behinderung abhängig sein soll, sondern allein vom Ziel einer vollständigen und dauerhaften Eingliederung (BT-Drucks 7/2256 S. 10). Es wurde also befürchtet, daß der "Insbesondere-Zusatz" zu einer einengenden Interpretation führen könnte, die nunmehr doch nicht vermieden worden ist. Über das eingeschränkte Maßnahmeangebot hat die Rechtsprechung zugleich die Berufswahl dahin eingeschränkt, daß die Rehabilitation nur bei Berufszielen in Betracht kommt, die überhaupt in zwei Jahren erreichbar sind. Andere Berufsziele können grundsätzlich nicht frei gewählt werden.

Soweit ersichtlich hat die Praxis niemals eine so enge Auffassung vertreten. Die Berufsförderungswerke bieten bestimmte Berufsziele nur in dreijährigen Ausbildungen an; die Bundesanstalt fördert solche dreijährigen Rehabilitationsmaßnahmen nach dem von ihr in diesem Verfahren vorgelegten statistischen Material. Diese Ausbildungsgänge sind nicht Schwerstbehinderten vorbehalten, deren Eingliederung sonst nicht zu gewährleisten wäre. Sie dürften fast nicht vorgesehen sein, wenn dreijährige Ausbildungen grundsätzlich durch ganz andere, aber ebenfalls noch Eignung und Neigung entsprechende zweijährige Ausbildungen ersetzbar wären.

Diese Einschätzung läßt sich auch dem Satzungsrecht entnehmen. Die Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit (BA) über die Arbeits- und Berufsförderung Behinderter (AReha) vom 2. Juli 1970 sah in § 27 Abs. 1 noch die Einschränkung vor, die die Rechtsprechung jetzt dem Gesetzestext entnimmt; die Teilnahme an Maßnahmen, die bei Vollzeitunterricht zwei Jahre überstiegen, wurde nur gefördert, wenn die berufliche Fortbildung oder Umschulung auf andere Weise nicht verwirklicht werden konnte und die Förderungsdauer drei Jahre nicht überschritt. Nach Inkrafttreten des RehaAnglG eröffnete die AReha vom 31. Juli 1975 jedoch in § 22 weitergehende Ansprüche; gefördert wurden auch Maßnahmen, die bei ganztägigem Unterricht drei Jahre erreichten, wenn "wegen Art oder Schwere der Behinderung, Art der Bildungsmaßnahme oder besonderer Umstände eine längere Dauer notwendig ist". Das Studium an einer Ingenieurschule, Fachhochschule, höheren Fachschule, Hochschule oder ähnlichen Ausbildungsstätte zählte nur dann als Maßnahme, wenn wegen Art oder Schwere der Behinderung "nur auf diese Weise eine vollständige und dauerhafte Eingliederung des Behinderten zu erreichen ist" (§ 16 Abs. 3). Aus eben diesem Grund stehen die oben genannten Entscheidungen des BSG auch einem abweichenden Verständnis der Norm nicht entgegen. Sie betrafen ausnahmslos Berufswünsche außerhalb des Berufsbildungsbereiches (Fachhochschulstudium der Ökotrophologie - SozSich 1984, 357; Studium an der PH - BSGE 46, 198; zweijähriges Studium mit Praktikum zum Beruf der Erzieherin - BSGE 49, 263; Fachhochschulstudium zum Lebensmittelingenieur - SozR 2200 § 567 Nr. 4). Inzwischen ist allerdings § 22 AReha mit der 7. Änderungsanordnung vom 16. März 1982 der engen Rechtsprechung angepaßt worden.

Für die Umschulung Nichtbehinderter gilt jedoch § 47 Abs. 3 Satz 2 AFG, wonach die Teilnahme an einer Umschulungsmaßnahme in der Regel nur gefördert werden soll, wenn diese nicht länger als zwei Jahre dauert. Die Ausnahme, daß die längerdauernde Umschulung nur dann möglich ist, wenn das Ziel anders nicht verwirklicht werden kann, findet sich hier nicht. Entsprechend allgemein war § 4 der Anordnung des Verwaltungsrates der BA über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung (AFuU) in allen Fassungen so formuliert wie in der AReha von 1970: Auch in diesem Bereich sollen Mittel der Solidargemeinschaft sparsam verwendet werden. Dennoch hat die Praxis diese Vorschriften nicht eng dahin ausgelegt, daß solche längeren Umschulungsmaßnahmen nur als ultima ratio in Betracht kämen, wenn anderenfalls kein geeigneter Umschulungsberuf in Sicht wäre. Hier werden mit Rücksicht auf Eignung und Neigung und die Erfordernisse des Arbeitsmarktes in nicht unerheblichem Umfang auch dreijährige schulische Ausbildungen bei institutionell anerkannten Maßnahmeträgern und bei anerkannten Berufsbildern gefördert. Das ist von der Rechtsprechung gebilligt worden (vgl. z.B. BSG SozR 7310 § 14 Nr. 1). Die subjektiven Erfordernisse, wie Eignung und Neigung des Antragstellers, sind gleichermaßen bedeutsam wie objektive Kriterien, insbesondere die Verwertbarkeit der neu hinzugewonnenen Kenntnisse und ihre Bewertung auf dem Arbeitsmarkt. Nur bei einem gleichartigen Abschlußziel und gleichartiger Berufsbezeichnung wird auf den kürzeren Lehrgang verwiesen (BSG SozR 4460 § 6 Nr. 2). Die Höchstgrenze wird für den Regelfall nicht als zweijährig, sondern als dreijährig definiert (vgl. die Entscheidungen BSG SozR 4100 § 47 Nrn 1, 2, 5, 13). Anders als im Reha-Recht wird der "rein subjektive Berufswunsch" zwar nicht als "abschließendes Merkmal für die Leistungspflicht" (so BSG SozSich 1984, 357), aber doch auch nicht als leistungsausschließendes Merkmal angesehen.

Weder im Bereich der Umschulung noch im Bereich der Rehabilitation kann ein Berufswunsch allein entscheidendes Kriterium für die Leistungspflicht eines öffentlichen Trägers sein; daneben sind die Eignung und vor allem das Ziel der dauerhaften beruflichen Eingliederung zu beachten. Fördermittel dürfen nur dort eingesetzt werden, wo der gewünschte Beruf zugleich die Chance des Rehabilitationserfolges eröffnet.

Es ist jedoch dem Gesetz an keiner Stelle zu entnehmen, daß die verfassungsrechtlich verbürgte Berufswahlfreiheit (Art 12 des Grundgesetzes -GG-) über das vom Leistungszweck hinaus gedeckte Maß eingeengt werden soll. Gemessen an Art 12 Abs. 1 GG sind Einschränkungen der Berufswahlfreiheit im wesentlichen mit der begrenzten Finanzkraft oder mit arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten zu rechtfertigen. Die eine Grenze wird durch das Beitragsaufkommen gesetzt; die andere folgt aus dem Rehabilitationsziel, weil nur Berufe, für die auf dem Arbeitsmarkt ein Bedarf besteht, die Eingliederung des Behinderten ermöglichen; insoweit haben Neigungen und Wünsche zurückzutreten.

Im allgemeinen ist das gesetzliche Berufsförderungsrecht getragen von dem Grundsatz, daß öffentliche Mittel nicht berufslenkend wirken sollen, weil nach überwiegender Meinung aus Art 12 ein Verbot staatlicher Berufslenkung folgt (vgl. die Nachweise bei Scholz in Maunz/Dürig/Herzog, GG, Stand September 1981, Art 12 RdNr 89). Soweit jedoch dem Staat zur sozialen Sicherung und Vorsorge im Bereich des Berufs- und Ausbildungsrechts eine - wenn auch nach dem Umfang verfügbarer Mittel begrenzte - Leistungsverpflichtung zukommt, weil sonst die garantierte Berufswahlfreiheit unterlaufen werden könnte (vgl. BVerfGE 33, 303, 331 ff; 43, 291, 313ff.), korrespondiert mit diesem staatlichen Leistungsmandat auch eine Befugnis zur Steuerung. Diese ist aber eingeschränkt auf das Setzen bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Ziele. Nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit muß jede Lenkungsmaßnahme im Rahmen des Subventionszwecks das jeweils mildeste Mittel wählen. Gerade aus der Sicht des Art 12 GG in der Ausgestaltung durch das Bundesverfassungsgerichts -BVerfG- (vgl. zur Stufentheorie BVerfGE 7, 377, 402) haben sich die Maßnahmen staatlicher Berufslenkung auf Mittel zu beschränken, die entweder indirekt wirken (z.B. durch Berufsberatung) oder jedenfalls die Freiheit der Berufswahl nicht stärker beschränken, als es die jeweils zu schützenden staatlichen Interessen erfordern. Gerade der Zugang zu den Ausbildungseinrichtungen darf nicht zu Zwecken einer Berufslenkung eingeengt werden (so auch Scholz a.a.O. RdNr 453). Berufspolitische Lenkungsmaßnahmen unterliegen der strikten Bindung an das Übermaßverbot. Individuelle Ausbildungswünsche müssen in angemessener Form berücksichtigt werden.

Im Einklang mit diesen Grundsätzen legt das Bundesgesetz über die individuelle Förderung der Ausbildung (BAföG) vom 26. August 1971 (BGBl. I 1409), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2477), in § 15 und den dazu ergangenen Verordnungen über die Förderungshöchstdauer zwar Höchstbeträge fest, die sich jedoch jeweils den Studiengängen anpassen und daher die Auswahl nicht dahin beeinflussen, daß längerwährende Studiengänge schon wegen vermehrter Eigenbelastung nicht gewählt werden können. Eine solche Beeinflussung der Berufswahl könnte allein mit der Einsparung öffentlicher Mittel nicht gerechtfertigt werden. Nach BAföG werden auch Zweitausbildungen gefördert, wenn die besonderen Umstände des Einzelfalles dies erfordern. Rehabilitationsgründe müssen insoweit anerkannt werden (vgl. die Nachweise bei Rothe/Blanke, Komm zum BAföG, 4. Aufl 1988, § 7 RdNr 28).

In gleichem Maße wird die Berufswahlfreiheit bei der Leistung der Berufsausbildungsbeihilfe nach §§ 40ff. AFG gewährleistet. Die Dauer dieser Förderung knüpft grundsätzlich an die notwendige Dauer der jeweils gewählten Berufsausbildung an (§§ 2, 8 der Anordnung des Verwaltungsrates der BA über die individuelle Förderung der beruflichen Ausbildung (A-Ausbildung) vom 31. Oktober 1969, jetzt in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 1989 - ANBA 1989, 911), was erhebliche Schwankungen hinsichtlich der Dauer der Förderung zuläßt, weil die Ausbildungsdauer zwischen 12 und 42 Monaten liegt (vgl. die Zusammenstellung im Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe, herausgegeben vom Bundesinstitut für Berufsbildung, Stand 1. Juli 1989). Dieses Prinzip der einschränkungslosen Anknüpfung von Fördermitteln an die Dauer der jeweiligen Ausbildungsgänge wird für die berufliche Umschulung durchbrochen; die Höchstgrenze für Leistungen beträgt drei Jahre. Das ist zu rechtfertigen, weil es sich um eine zweite Ausbildung handelt, für die auch in § 7 BAföG gewisse Einschränkungen vorgesehen sind. Da es sich bei der Umschulung in aller Regel um erwachsenengerecht abgekürzte Bildungsgänge handelt, ist diese Einschränkung auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten generell hinnehmbar. Auch sieht § 47 BBiG verkürzte Ausbildungsgänge vor, so daß staatlich anerkannte Berufe nach dem BBiG auch für die Umschulung in aller Regel frei gewählt werden können, zumal die Ausbildungsdauer von drei Jahren bei der Erstausbildung nur in einem kleinen Teil der Ausbildungsberufe regelmäßig überschritten wird.

Das BBiG sieht in §§ 48, 49 überdies Sonderregelungen zugunsten Behinderter vor, um ihrer besonderen Situation gerecht zu werden. Dem darf die Auslegung von § 56 AFG nicht zuwiderlaufen, weil ohne Sicherstellung des Lebensunterhalts die Behinderten von dem zu ihren Gunsten erweiteren Umschulungsangebot nicht Gebrauch machen könnten. Für die berufliche Rehabilitation, die grundsätzlich jeder Geldleistung vorgeht (§ 7 RehaAnlgG, jetzt § 9 SGB VI) und an der die Behinderten auch aktiv mitzuwirken haben (§ 4 Abs. 1 RehaAnglG i.V.m. den §§ 62ff. SGB I), gibt es für die abhängig Beschäftigten ein staatliches Monopol, das vorrangig von der BA wahrgenommen wird (§ 5 Abs. 4 und § 6 Abs. 2 Nr. 2 RehaAnglG). Diese Ausgestaltung gebietet in besonderem Maße, den sich aus Art 12 Abs. 1 GG ergebenden Spielraum für eine freie Entscheidung bei der Wahl oder Planung der neuen Tätigkeit und die individuellen Interessen des einzelnen Behinderten zu beachten (vgl. zum Ausbildungsmonopol BVerfGE 7, 377; 39, 346; 43, 291, 313 f; vgl. auch BVerwGE 16, 241; 47, 331; BAGE 54, 340). Dabei beurteilen sich auch Hindernisse bei einem Berufswechsel nach Art 12 GG (BVerfGE 41, 251; 43, 291, 363; 55, 185, 196; vgl. auch die Rechtsprechung zum Studienwechsel BVerwGE 35, 146; 62, 117, 147; 67, 235 und BVerwG Buchholz, 436.36 § 7 BAföG Nrn 29 und 56). Im übrigen unterstellt das öffentliche Förderungsrecht, daß Rehabilitanden zum Berufswechsel gezwungen sind. Ihre Leistungsminderung macht die bisher erworbenen beruflichen Kenntnisse wertlos. In vielen Fällen werden gesundheitliche Einschränkungen die Ausübung des bisherigen Berufs objektiv unmöglich machen, so daß - anders als bei der arbeitsmarktpolitisch indizierten Umschulung - bisherige berufliche Kenntnisse nicht mehr verwertbar sind. Behinderte, die bereits eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, stehen schicksalhaft vor ihrer erzwungenen Zweitausbildung, sind letztlich in der Berufsausbildung denjenigen vergleichbar, die erstmals ihre Berufswahl treffen. Es besteht deshalb kein Grund, daß der Gesetzgeber die Förderung der Umschulung Behinderter stärker einschränken wollte als die der Umschulung Nichtbehinderter.

Nur soweit die berufliche Rehabilitation finanziell abgesichert ist, kann sie vom Einzelnen, der grundsätzlich als Erwerbstätiger auf Lohn oder Lohnersatzleistungen angewiesen ist, aber auch wahrgenommen werden. Wenn auch aus Art 12 Abs. 1 GG oder dem Sozialstaatsgebot kein einklagbarer Anspruch auf staatliche Finanzierung der Ausbildung folgt - auch nicht im Bereich der Rehabilitation -, so verbinden sich doch die soziale Grundrechtsgewährleistung aus Art 1 und Art 2 GG und die Berufsfreiheit dahin, daß aus Art 12 GG die inhaltlich maßgebenden Direktiven für die gesetzliche Ausgestaltung des Leistungsrechts oder die Auslegung der eingeräumten sozialen Rechte zu entnehmen sind. Das Grundrecht auf Berufsfreiheit in seiner Ausprägung durch den Gleichheitssatz und das Sozialstaatsgebot verbietet den Ausschluß gewichtiger Bereiche der durch das BBiG erfaßten beruflichen Ausbildung allein mit der Begründung, die Regeldauer der Ausbildung übersteige zwei Jahre.

Der Gesetzgeber hat von der ihm auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zustehenden Befugnis, Berufsbilder für typische Berufe gesetzlich zu fixieren und Ausbildungsgänge und Prüfungen sowie Zulassungsvoraussetzungen zu regeln (BVerfGE 13, 97, 106; 21, 173, 180; 25, 236, 247; 55, 185, 201), Gebrauch gemacht. Innerhalb dieser Regelungen sind öffentliche Fördermittel so einzusetzen, daß sie nicht mittelbar und ohne ausreichende verfassungsrechtliche Rechtfertigung zu Instrumenten der Berufslenkung werden. Vergleichbares ist für den Bereich steuerrechtlicher Regelungen in zahlreichen Entscheidungen des BVerfG ausgesprochen (BVerfGE 13, 181, 184; 14, 76, 100; 16, 147; 29, 327, 333 ff; 31, 8, 26; 38, 61, 79; vgl. auch zu sonstigen öffentlich-rechtlichen Abgaben BVerfGE 55, 274, 297 ff; 75, 108, 154). Steuerliche Vorschriften und Abgabevorschriften sind an Art 12 Abs. 1 GG zu messen, wenn sie infolge ihrer Gestaltung in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs stehen und objektiv eine berufsregelnde Tendenz deutlich erkennen lassen, d.h. wenn ihre tatsächlichen Auswirkungen geeignet sind, die Berufsfreiheit zu beeinträchtigen.

Soweit schon auf die Berufswahl Einfluß genommen wird, müssen hinreichende Gründe des Gemeinwohls dies gebieten; auch soweit nur die Berufsausübung berührt wird, sind nur erforderliche Eingriffe gerechtfertigt. Die Einschränkungen müssen zumutbar und verhältnismäßig sein (vgl. BVerfGE 7, 377, 402; 65, 116, 125 f; 68, 272, 282; vgl. auch BVerwG Urteil vom 6. November 1989 - 5 C 36/88). Diese Prüfungsmaßstäbe gelten entsprechend auch dann, wenn die Berufslenkung nicht durch Lasten, sondern durch die Ausgestaltung eines staatlichen Leistungssystems bewirkt wird. Die mit Hoheitsgewalt ausgestattete Bundesanstalt für Arbeit darf die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarkts (§§ 1 und 2 AFG) bei der Mittelvergabe berücksichtigen und nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Berufswahlfreiheit insoweit einengen, als die vorhersehbare Entwicklung des Arbeitsmarkts dies erfordert.

Gemessen an den genannten Grundsätzen ist § 56 AFG dahin zu verstehen, daß die staatlichen Leistungen bei der beruflichen Rehabilitation Behinderter nicht alle Berufsbildungsgänge mit einer mehr als zweijährigen Ausbildungsdauer von der Förderung ausschließen. Der Eingriff in die Berufswahlfreiheit, der darin zu sehen wäre, daß die Bundesanstalt ihre Fördermittel auf einen vorgefundenen Maßnahmekatalog zuschneidet, sind im Bereich des Berufsbildungsgesetzes nicht mit Art 12 GG in Einklang zu bringen. Das Wahlrecht der Rehabilitanden darf auf diese Weise nicht auf einen kleinen Kreis von Berufen eingeschränkt werden, der derzeit institutionell im Zweijahresbildungsgang zur Verfügung steht.

Diese Auslegung widerspricht auch nicht dem Grundsatz sparsamer Mittelverwendung. Maßgeblicher Gesichtspunkt für die Förderungshöchstdauer ist das, was die jeweilige Ausbildung erfordert, was also zur Erreichung des Berufsziels vorgeschrieben oder allgemein üblich ist (§ 56 Abs. 4 Satz 1 AFG). Reichten die Mittel der BA nicht aus, wäre gemessen an Art 12 GG eine niedrigere oder eine zum Teil nur darlehensweise gewährte Förderung sachgerecht, nicht aber der vollständige Ausschluß eines erheblichen Teils der Ausbildungsberufe, zumal auch das Ziel der beruflichen Rehabilitation, nämlich die dauerhafte Eingliederung der Behinderten in das Erwerbsleben nur über einen frei gewählten Beruf gewährleistet wird (so auch Gagel, Komm zum AFG, 2. Aufl, § 1 RdNr 33; § 56 RdNrn 15 und 45).

Bei anderer Auslegung würde die Auswahl der Behinderten auf den geschlossenen Kreis vorhandener zweijähriger Maßnahmen verengt; es gäbe einen numerus clausus der Berufe ohne jeden gesamtwirtschaftlichen Anreiz, das Angebot zu erweitern. Eine solche Auslegung würde die Berufswahlfreiheit unverhältnismäßig einschränken, ohne dem Ziel der beruflichen Eingliederung zu nutzen. Es ist weder gewährleistet, daß gerade die zweijährigen Ausbildungsgänge zu Abschlüssen führen, die auf dem Arbeitsmarkt besonders verlangt werden, noch bestünde generell die Möglichkeit, besonders nachgefragte Berufe (um einen solchen handelt es sich hier nach den Feststellungen des LSG) den Rehabilitanden zu eröffnen.

Obwohl die Dauer der vom Kläger gewählten Maßnahme einer Förderung nicht entgegensteht, waren im vorliegenden Fall Leistungen nur für zwei Jahre zuzusprechen, weil das LSG zutreffend erkannt hat, daß eine längerdauernde Förderung vom Kläger nicht beantragt war.

Dem LSG ist auch darin zu folgen, daß diese Teilleistung dem Kläger aufgrund eines Kostenerstattungsanspruchs zuzusprechen ist. Dem steht das im Reha-Bereich grundsätzlich anerkannte Sachleistungsprinzip (vgl. BSGE 48, 172; BSG in SozSich 81, 285 und BSG SozR 2200 § 567 Nr. 4) nicht entgegen. Der Sachleistungsanspruch wandelt sich in einen Kostenerstattungsanspruch um, wenn ein Versicherungsträger die erforderliche Sachleistung nicht erbringt und der Berechtigte sie selbst beschafft (vgl. hierzu BSGE 50, 73, 74f. und BSG USK 85141). In der Krankenversicherung ist anerkannt, daß die selbstbeschaffte Leistung nicht in jeder Weise so beschaffen sein muß, wie die an sich geschuldete Sachleistung. Die Leistung muß lediglich als Surrogat geeignet sein, wobei Kostenerstattungsansprüche dann an eine Obergrenze geknüpft sein können. Es mag zwar sein, daß der Kläger den Rehabilitationsantrag verspätet gestellt hat; nicht deshalb war aber die Beklagte gehindert, den Gesamtplan zu erstellen (vgl. BSG SozR 4100 § 56 Nr. 8), denn sie hat die Rehabilitationsbedürftigkeit zu Unrecht verneint. Allein die Tatsache, daß der Anspruch auf Rehabilitation nicht dadurch erlischt, daß sich die Rehabilitation durch fehlerhafte Entscheidung hinauszögert (in diesem Sinne BSG SozR 4100 § 56 Nr. 18), vermag nicht zu begründen, warum anders als bei sonstigen Sachleistungen Berechtigte auf die notwendigen Leistungen warten sollen. Ebenso wie im Krankheitsfall die zu Unrecht verweigerte Leistung anderweit beschafft werden muß, kann auch dem Behinderten angesichts der fortschreitenden Lebenszeit, ungenutzter Chancen und einer fortdauernden Abhängigkeit von öffentlichen Leistungen (Arbeitslosengeld oder Rente) ein Abwarten bis zur rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung über die Berechtigung nicht zugemutet werden. Mit zunehmendem Erwerb neuer Kenntnisse in einer selbst begonnenen Maßnahme nimmt das Gewicht von Neigung und Eignung zu und vermehren sich die berücksichtigungsfähigen Kenntnisse im Hinblick auf die begonnene Ausbildung. Nicht verändert wird durch Eigeninitiative die Anspruchsgrundlage. Der Behinderte kompensiert lediglich die Nachteile, die ihm durch eine Verweigerung der Rehabilitation dem Grunde nach bereits entstanden sind.

Das LSG hat diese Maßstäbe zutreffend angewandt und im zweiten Halbjahr des zweiten Schuljahrs einen Ausbildungswechsel für unzumutbar gehalten. Dieses Ergebnis folgt schon aus der prognostischen Einschätzung, welcher Zeitaufwand für eine erfolgreiche Eingliederung in den Beruf noch erforderlich ist. Aus § 4 RehaAnglG ist zu entnehmen, daß Maßnahmen frühzeitig eingeleitet und zügig durchgeführt werden sollen. Der rasche Erfolg, die möglichst baldige Eingliederung ist Ziel aller Maßnahmen. Jeder Wechsel in eine zweijährige andere Rehabilitationsmaßnahme hätte jedoch dieses Ziel hinausgeschoben.

Die angefochtene Entscheidung ist auch nicht deshalb zu beanstanden, weil das LSG antragsgemäß nur eine Teilförderung zugesprochen hat. Die Gründe, die generell gegen Teilleistungen sprechen, weil nur vollständige Förderung den Eingliederungserfolg mit hinlänglicher Wahrscheinlichkeit sichert, gelten nicht in den Fällen, in denen der Sachleistungsanspruch zum Kostenerstattungsanspruch wird. Immer dann haben die Behinderten bereits auf eigene Kosten Vorleistungen erbracht und werden wirtschaftlich nicht durch Übernahme der Restkosten, sondern allenfalls durch Verweigerung der Kostenerstattung so gefährdet, daß auch die Eingliederung durch die Maßnahme fraglich wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 518214

BSGE, 275

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