Leitsatz (amtlich)

1. Eine Maßnahme der beruflichen Rehabilitation kann auch die Umschulung zum Heilpraktiker sein.

2. Daß eine Umschulung iS des RVO § 1237a Abs 3 S 2 länger als 2 Jahre dauern wird, muß bei prognostischer Beurteilung mit einer hinreichenden Sicherheit feststehen; eine Gewähr, daß die Zweijahresfrist nicht überschritten wird, ist dabei nicht zu fordern.

 

Normenkette

RVO §§ 1236, 1237a Abs 3 S 2 Fassung: 1974-08-07; HeilprG § 1 Fassung: 1939-02-17, § 3 Fassung: 1939-02-17; AVG § 14a Abs 3 S 2 Fassung: 1974-08-07, § 13; RVO § 1237a Abs 1 S 1 Nr 3 Fassung: 1974-08-07; AVG § 14a Abs 1 S 1 Nr 3 Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 23.02.1979; Aktenzeichen L 4 An 180/78)

SG Münster (Entscheidung vom 04.07.1978; Aktenzeichen S 5 An 40/77)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt den Ersatz von Aufwendungen für ihre Umschulung zur Heilpraktikerin.

Die 1940 geborene Klägerin arbeitete bis 1969 als Chemotechnikerin. Aus gesundheitlichen Gründen wechselte sie dann zur Tätigkeit einer Pharmareferentin über, wobei sie Ärzte aufzusuchen und große Strecken im Kraftwagen zurückzulegen hatte. Wegen Wirbelsäulenbeschwerden gab sie Ende Juni 1976 auch diese Tätigkeit auf und wandte sich dem Beruf der Heilpraktikerin zu. Sie besuchte vom 1. Juli 1976 bis 30. Juni 1977 die Verbandsschule der D H eV - I N - in W bei H, sammelte daneben und danach praktische Erfahrungen in der Praxis eines Internisten und unterzog sich mit Erfolg der amtsärztlichen Prüfung. Am 15. September 1977 ließ sie sich als Heilpraktikerin nieder.

Am 3. Mai 1976 hatte die Klägerin eine Förderung der beabsichtigten Umschulung zur Heilpraktikerin beantragt. Für diesen Beruf bringe sie aufgrund ihrer früheren Tätigkeiten eine gute Grundlage mit; die Ausbildung beginne am 1. Juli 1976 und dauere etwa 12 bis 15 Monate. Die Beklagte lehnte den Antrag ab; der Widerspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg. Im Widerspruchsbescheid ist ausgeführt, die Klägerin sei weiterhin in der Lage, den Beruf einer Chemotechnikerin auszuüben. Abgesehen davon könne die Ausbildung zur Heilpraktikerin grundsätzlich nicht gefördert werden. Über die Form und Dauer der Ausbildung zum Heilpraktiker gebe es keine gesetzlichen Bestimmungen, die Ausbildung schließe mit einer Prüfung ohne rechtliche Auswirkungen ab. Die von der Klägerin angestrebte Umschulung lasse daher unter medizinischen und arbeitsmarkt-politischen Gesichtspunkten eine geeignete dauerhafte Berufstätigkeit nicht erwarten.

Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. In der Begründung seiner Entscheidung ist das Landessozialgericht (LSG) davon ausgegangen, daß die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in den Berufen der Chemotechnikerin und der Pharmareferentin gemindert, zumindest aber gefährdet ist. Die Ablehnung einer Förderung der Umschulung zur Heilpraktikerin durch die Beklagte sei jedoch nicht ermessensfehlerhaft; die Beklagte habe nicht anzunehmen brauchen, daß dadurch eine berufliche Eingliederung auf Dauer erreicht werden würde. Das Heilpraktikergesetz vom 17. Februar 1939 und die Verordnung (VO) vom 18. Februar 1939 sähen nicht eine Ausbildung vor, sondern forderten lediglich für die Ausübung einer Tätigkeit als Heilpraktiker eine Erlaubnis; die dieser voraufgehende Überprüfung richte sich im wesentlichen darauf, daß der Heilpraktiker keine Gefahr für die Gesundheit darstelle, nicht aber darauf, ob er heilen könne. Der Berufserfolg sei daher einer sicheren Voraussage nicht zugänglich. Zudem habe die Beklagte davon ausgehen können, daß die Dauer der Ausbildung an einer Heilpraktiker-Fachschule zwei bis drei Jahre betrage; auch besonders günstige Voraussetzungen im Falle der Klägerin hätten keine Gewähr für eine Beendigung der Ausbildung innerhalb von zwei Jahren geboten, ohne daß es insoweit weiterer Ermittlungen bedurft hätte.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin, es verstoße gegen den Gleichheitssatz, wenn die Beklagte Ausbildungen zum Heilpraktiker grundsätzlich nicht fördere. Es sei ohne Bedeutung, worauf die der Erlaubnis der Berufsausübung voraufgehende Prüfung ausgerichtet sei und wie der Heilpraktiker seine Kenntnis erwerbe. Jedenfalls gebe es eine geordnete Ausbildung für den Heilpraktikerberuf; diese habe, was die Beklagte habe erkennen können, von der Klägerin unter Berücksichtigung ihrer Kenntnisse und Eigenschaften innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen werden können. Daß der Berufserfolg ausbleiben könne, gelte für alle Berufe; daß unverhältnismäßig viele Heilpraktiker scheiterten, sei nicht dargetan, im Gegenteil sei festgestellt, daß es kaum arbeitslose Heilpraktiker gebe. Daß regelmäßig die Ausbildung mehr als zwei Jahre in Anspruch nehme, treffe nicht zu; einen dahingehenden Beweisantrag habe das LSG zu Unrecht übergangen. Für ihre Umschulung habe die Klägerin insgesamt 35.264,-- DM aufgewandt.

Die Klägerin beantragt,

die angefochtenen Vorentscheidungen aufzuheben und die

Beklagte zur Zahlung von 35.264,-- DM zu verurteilen,

hilfsweise,

das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und die Sache

an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist iS einer Aufhebung der Vorentscheidungen begründet; die Beklagte hat von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung des § 13 Abs 1 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht.

Daß die Klägerin die in dieser Vorschrift geforderten versicherungsmäßigen und gesundheitlichen Voraussetzungen einer Gewährung von berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation erfüllt hat, hat das LSG festgestellt und wird von der Beklagten nicht mehr bezweifelt. Da die Klägerin den Antrag auf Förderung vor Beginn der Umschulung gestellt hat, steht ihrem Begehren auch nicht entgegen, daß sie die Umschulung selbst betrieben und abgeschlossen hat (SozR 2200 § 1236 Nr 16); die zwischenzeitliche Durchführung läßt allerdings den Ermessensspielraum der Beklagten grundsätzlich unberührt (Urteil des erkennenden Senats vom 31. Januar 1980 - 11 RA 8/79, SozR 2200 § 1237a Nr 10). Die Ablehnung der Förderung ist jedoch deswegen ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig, weil sie auf Erwägungen gestützt ist, die im Widerspruch zu dem Begriff der berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation stehen, wie er in § 14a AVG abgegrenzt ist. Diese Leistungen umfassen nach dessen Abs 1 Nr 3 ua die berufliche Ausbildung und Umschulung; bedeutsam ist dabei ferner, daß nach Abs 2 Satz 1 der Betreute durch die Leistungen möglichst auf Dauer beruflich eingegliedert werden soll. Damit kommt als Maßnahme der beruflichen Rehabilitation jede Ausbildung und Umschulung in Betracht, durch die eine berufliche Eingliederung auf Dauer erzielt werden kann. Das ist entgegen der Ansicht der Beklagten und der Vorinstanzen aber auch mit der Ausbildung zum Heilpraktiker möglich. "Heilpraktiker" ist ein vom Gesetz unter dieser Berufsbezeichnung anerkannter Beruf (§§ 1 Abs 1; 3 Halbsatz 2 des Heilpraktikergesetzes vom 17. Februar 1939 - RGBl I 251); der Heilpraktiker übt die Heilkunde aus, seine Tätigkeit deckt sich im wesentlichen mit der des Arztes (SozR 2400 § 2 Nr 4). Das schließt es aus, die Tätigkeit des Heilpraktikers aus dem Kreis der für eine Rehabilitation in Betracht kommenden Berufe auszunehmen (so auch BVerwGE 29, 342, 345 für die Kriegsopferfürsorge und OVG Berlin, FEVS 27, 316 für die Eingliederung im Rahmen der Sozialhilfe).

Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, daß die Ausbildung zum Heilpraktiker nicht gesetzlich geregelt ist. § 14a AVG (auch nicht dessen Abs 3 Satz 1) beschränkt die Förderung nicht auf die "vorgeschriebenen" oder die "allgemein üblichen" Ausbildungsmaßnahmen. Es mag deshalb zwar zutreffen, daß die Zulassung zum Beruf des Heilpraktikers nur von der Erfüllung von Minimalanforderungen abhängig ist (vgl jedoch OLG Oldenburg, NJW 1980, 652 zur Verwaltungspraxis) und daß es dazu einer Ausbildung an einer Heilpraktikerschule rechtlich nicht bedarf. Entscheidend ist aber nicht, ob die Ausbildung für die Zulassung zum Beruf, sondern ob sie für die Berufsausübung erforderlich ist (vgl BVerwG aaO; OVG Berlin aaO S 318). Zahlreichen Berufen ist eigentümlich, daß sie zwar ohne eine Ausbildung, vielfach auch ohne eine Zulassung ausgeübt werden dürfen, daß aber ihre erfolgreiche Ausübung den Besitz oftmals umfassender Kenntnisse und Fertigkeiten erfordert, die regelmäßig nur durch eine besondere Ausbildung erworben werden können. Das ist auch hier der Fall; für eine qualifizierte und erfolgreiche Berufstätigkeit bedarf der Heilpraktiker einer entsprechenden Ausbildung (vgl OVG Berlin aaO). Dafür waren sowohl die von der Klägerin besuchte Heilpraktikerschule als auch die Assistenz in der internistischen Praxis geeignet (vgl Hess VGH, ESVGH 28, 201 zur Befreiung einer Heilpraktikerschule von der Umsatzsteuer).

Daß beim Heilpraktiker - wie das LSG meint - eine sichere Voraussage hinsichtlich des Berufserfolges nicht möglich ist, kann eine Förderung ebenfalls nicht ausschließen; dies trifft nämlich auf nahezu alle Berufe zu. Die Möglichkeit eines Scheiterns in der Praxis ist immer gegeben. Daß Gefahren dieser Art beim Heilpraktiker besonders groß sind, ist nicht festgestellt; es ist auch nicht ersichtlich, daß der Heilpraktikerberuf eine "natürliche Heilbegabung" erfordere, der gegenüber eine systematische Ausbildung in den Hintergrund trete (vgl Hess VGH aaO S 202). Zu beachten ist insoweit nur, ob der Betreute für den Beruf geeignet ist (§ 14a Abs 2 Satz 2 AVG) und durch ihn möglichst auf Dauer eingegliedert werden kann. Das ist jeweils im Einzelfall zu prüfen und bei der Klägerin nicht zu verneinen.

Die Ansicht des LSG, die Beklagte habe die beantragte Förderung auch im Hinblick auf § 14a Abs 3 Satz 2 AVG ablehnen dürfen, findet in den getroffenen Feststellungen keine Stütze. Nach dieser Vorschrift darf zwar der Versicherungsträger eine berufliche Umschulung, die bei ganztätigem Unterricht länger als zwei Jahre dauert, nur fördern, wenn der Versicherte bei Beachtung der in § 14a AVG enthaltenen Richtlinien nicht durch eine bis zu zweijährige Maßnahme eingegliedert werden kann. Der Senat hat ferner bereits entschieden, daß die Gerichte im Rechtsstreit selbst zu klären haben, ob ein solcher Ausnahmefall gegeben ist oder nicht (SozR 2200 § 1237a Nr 10). Der Tatbestand der länger als zwei Jahre dauernden Umschulung war hier jedoch nicht - wie das LSG meint - deshalb zu bejahen, weil nicht von vornherein im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides eine "Garantie" für eine Beendigung der Umschulung innerhalb der Regelförderungszeit von zwei Jahren gegeben war. § 14a Abs 3 Satz 2 AVG ist, soweit er Satz 1 aaO einschränkt, eine Ausnahmeregelung, für deren Anwendung an sich nur Raum ist, wenn die Überschreitung der Zweijahresdauer feststeht. Bei einer prognostischen Beurteilung darf zwar nicht eine dahingehende Sicherheit verlangt werden; hier muß es erforderlich, wie aber auch genügend sein, daß die Überschreitung der Frist immerhin mit einer hinreichenden Sicherheit feststeht. Maßgebend sind dabei die im Zeitpunkt der Prognose erkennbaren Umstände des Einzelfalles. Soweit eine Ausbildung von bestimmter Dauer zwingend vorgeschrieben ist, ist diese Dauer als feststehend zugrunde zu legen. Anders ist es, wenn es wie hier an einem vorgeschriebenen Ausbildungsgang fehlt. Gerade im Falle der Klägerin waren aber, wie auch das LSG erkannt hat, aufgrund der vorher ausgeübten Berufe der Chemotechnikerin und Pharmareferentin "günstige Voraussetzungen" gegeben, die gegen eine Überschreitung der Zweijahresdauer sprachen. Nach dem festgestellten Sachverhalt stand damit bei einer prognostischen Beurteilung eine solche Überschreitung nicht mit hinreichender Sicherheit fest. Unter diesen Umständen kann dahingestellt bleiben, ob zusätzlich berücksichtigt werden dürfte, daß die Umschulung der Klägerin dann tatsächlich auch erheblich weniger als zwei Jahre gedauert hat.

Die Beklagte wird somit unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut über den Antrag der Klägerin zu befinden haben. Der Senat hat für die dabei vorzunehmende Ermessensausübung zwar wiederholt darauf hingewiesen, daß eine nach der Antragstellung vom Versicherten selbst begonnene Rehabilitation diesem grundsätzlich weder Nachteile noch Vorteile verschaffen dürfe; im vorliegenden Falle wird die Beklagte jedoch berücksichtigen müssen, ob die Klägerin durch Umstände, die der Beklagten oder der Arbeitsverwaltung zuzurechnen sind, sich zum Beginn der Umschulung ohne Zustimmung der Beklagten veranlaßt gesehen hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1656209

BSGE, 184

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