Entscheidungsstichwort (Thema)

Schüler-Unfallversicherungsicherungsschutz bei Unfällen durch Spielerei

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Unfallversicherungsschutz eines 17jährigen Schülers (Fahrschülers), der sich in der Wartezeit zwischen Beendigung des Unterrichts und Abgang des Zuges an Spielereien mit Sprengkörpern beteiligt.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung liegt bei Unfällen durch Spielerei am Arbeitsplatz grundsätzlich vor, wenn es sich bei dem Verletzten um einen jugendlichen Arbeitnehmer - in der Regel bis zu 18 Jahren - handelt, der durch die Gestaltung der Betriebsverhältnisse, insbesondere durch unzureichende Beaufsichtigung, in die Lage versetzt ist, sich durch leichtsinnige Spielereien besonderen Gefahren auszusetzen.

2. Bei Kindern und Schülern, die im Rahmen der Schüler-Unfallversicherung versichert sind, erstreckt sich der Unfallversicherungsschutz wegen der Eigenart der schulischen Verhältnisse mehr noch als bei jugendlichen Arbeitnehmern auf Unfälle, bei denen der Spiel- und Nachahmungstrieb die Handlungsweise bestimmt; der Versicherungsschutz ist grundsätzlich zu bejahen, wenn sich die spielerische Betätigung eines Schülers noch im Rahmen dessen hält, was nach den Umständen des Falles nicht als völlig unverständlich oder vernunftwidrig zu erachten ist, mag es vielleicht auch unbesonnen oder leichtsinnig sein.

3. Ein 17-jähriger Schüler der Oberstufe eines Gymnasiums, der während der Wartezeit zwischen Schulende und Abfahrt des Verkehrsmittels infolge selbstverursachter Explosion eines von einem Mitschüler gebastelten Sprengkörpers verletzt wird, erleidet einen Arbeitsunfall, wenn er die besondere Gefährlichkeit des Sprengkörpers nicht erkannt hat.

 

Orientierungssatz

Zur Frage der Verwertung strafgerichtlicher Feststellungen im Wege des Urkundenbeweises statt Erhebung von eigenem Zeugenbeweis.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 103 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1974-07-30

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. Juni 1975 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Unfall, den der Kläger am 19. Mai 1972 nach Beendigung des Schulunterrichts durch die Explosion eines von einem anderen Schüler gebastelten Sprengkörpers erlitt, ein Arbeitsunfall (Schulunfall) ist.

Der am 4. Februar 1955 geborene Kläger besuchte zur Zeit des Unfalls die Oberstufe des staatlichen G-Gymnasiums in W. Für den Weg von seinem Wohnort nach Worms und zurück benutzte er als Fahrschüler den Zug. Am Unfalltag endete der Schulunterricht um 11.15 Uhr, der Zug fuhr um 12.37 Uhr. Um die Wartezeit zu überbrücken, verließ der Kläger die Schule, die keinen Aufenthaltsraum für die Fahrschüler besaß, und begab sich zum L-platz, einem üblichen Schülertreffpunkt. Dort wurde er auf Knallgeräusche aufmerksam, die von Sprengkörpern herrührten, die der 1956 geborene Schüler S herstellte und im Beisein einer größeren Zahl von Schülern explodieren ließ. Der Kläger kam mit S ins Gespräch, der ihm seine Kenntnisse über Sprengstoff und die chemische Zusammensetzung der Sprengkörper mitteilte. Nachdem S einen weiteren, etwa tischtennisballgroßen, in Stanniolpapier eingewickelten Sprengkörper hergestellt hatte, gab er ihn dem Kläger in die Hand, um diesem Gelegenheit zu geben, den Sprengkörper zur Explosion zu bringen. Daraufhin entfernte sich der Kläger von der Schülergruppe und wollte den Sprengkörper zu Boden werfen. Da sich einige Passanten in der Nähe aufhielten, wartete der Kläger zunächst, bis die Straße frei war. Dann holte er aus, um den Sprengkörper wegzuwerfen. Durch den mit den Fingern auf den Sprengkörper ausgeübten Druck explodierte der Sprengstoff vorzeitig und verletzte die rechte Hand des Klägers erheblich.

Durch Urteil vom 28. Juni 1973 wurde der Schüler S unter Anwendung des Jugendstrafrechts der fahrlässigen Herbeiführung einer Explosion in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung für schuldig befunden; das Urteil enthält die Feststellung, S habe den Kläger auf die Gefährlichkeit des Vorhabens aufmerksam gemacht, ihn dabei belehrt, wie er den Sprengkörper werfen müsse, und auf die Explosionsgefahr des Sprengkörpers hingewiesen, wenn er leicht gedrückt werde.

Mit Bescheid vom 23. Februar 1973 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Unfalls als Schulunfall und damit die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab. Das Sozialgericht (SG) Speyer hat nach Beiziehung der Akten des genannten Strafverfahrens die Klage abgewiesen (Urteil vom 23. September 1974). Die Berufung des Klägers ist vom Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz ohne weitere Beweiserhebung mit Urteil vom 25. Juni 1975 zurückgewiesen worden. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: Zwischen der Tätigkeit des Klägers im Unfallzeitpunkt und seiner schulischen Beschäftigung sei ein ursächlicher Zusammenhang nicht mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Es bedürfe keiner Entscheidung der Frage, ob das Aufsuchen des Schülertreffpunktes am L-platz einen überwiegend aus privaten Gründen unternommenen Umweg darstelle und damit nicht der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sei. Auf jeden Fall habe sich der Kläger nach dem Ermittlungsergebnis im Zeitpunkt des Unfalls durch sein Verhalten außerhalb des möglicherweise vorher gegebenen Versicherungsschutzes gestellt. Sein Hantieren mit dem vom Schüler S gebastelten Sprengkörper habe zur Lösung von einer unfallgeschützten Tätigkeit geführt, weil diese Art von Beschäftigung in einem derart losen Zusammenhang mit dem Schulbesuch und dem hieraus resultierenden Heimweg gestanden habe, daß demgegenüber die ursächliche Verknüpfung mit der versicherten Tätigkeit als rechtlich unwesentlich zurücktreten müsse. Der Kläger sei keiner Gefahr erlegen, der er infolge seines jugendlichen Alters und des darauf beruhenden Spieltriebs ausgesetzt gewesen sei.

Er sei im Unfallzeitpunkt bereits 17 Jahre und 3 Monate alt gewesen, er habe die Oberstufe eines Gymnasiums besucht. Unabhängig von dem Umfang seiner Schulbildung könne bei einem Schüler dieses Alters so viel Lebenserfahrung unterstellt werden, daß er die Gefährlichkeit selbst gebastelter Sprengkörper kenne. Das ergebe sich auch aus den Feststellungen des jugendrichterlichen Urteils. Ohne Bedeutung sei, daß die Schule keinen Aufenthaltsraum für Fahrschüler gehabt habe; dazu sei sie nach Landesrecht nicht verpflichtet gewesen. Selbst wenn sich hieraus wegen des Nachwirkens schulischer Einrichtungen Gesichtspunkte für einen Versicherungsschutz außerhalb des eigentlichen örtlichen Schulbereichs ergäben, änderten diese nichts daran, daß der Kläger einer Gefahr erlegen sei, der er sich freiwillig und frei von irgendwelchen wesentlichen fremden Beeinflussungen sowie in Kenntnis ihres Umfangs bewußt und willentlich ausgesetzt habe.

Der Kläger hat die zugelassene Revision eingelegt. Er trägt u. a. vor, das LSG habe Verfahrensvorschriften verletzt, da es seine Entscheidung lediglich auf die Feststellungen des Strafurteils gestützt habe, obwohl deren Richtigkeit von ihm - dem Kläger - bestritten worden seien. Das LSG habe eine eigene Beweisaufnahme (Zeugenanhörung) durchführen müssen. Ferner sei es unzutreffend, das Verhalten des Klägers als eine völlig eigenverantwortliche Tätigkeit anzusehen. Es müsse insbesondere berücksichtigt werden, daß die Schule keinen Aufenthaltsraum für die Fahrschüler eingerichtet habe, so daß diese sich für längere Zeit unbeaufsichtigt selbst überlassen blieben; der Unfallversicherungsschutz müsse sich deshalb - auch angesichts des "Forschertriebs" der Schüler - auf Spielereien und ein Experimentieren der vorliegenden Art während der Wartezeit erstrecken, wenn sie - wie hier - ohne Aufsicht geblieben seien.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 25. Juni 1975 und des SG Speyer vom 23. September 1974 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 1973 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger einen neuen Bescheid über die gesetzlichen Leistungen aus Anlaß des Unfalls vom 19. Mai 1972 unter Anerkennung dieses Unfalls als Schulunfall zu erteilen;

hilfsweise:

das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 25. Juni 1975 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, das LSG habe den Unfallversicherungsschutz zu Recht verneint. Das Hantieren mit Sprengkörpern habe nichts mehr mit dem durch § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geschützten Heimweg zu tun.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.

Zutreffend rügt die Revision einen Verfahrensmangel des angefochtenen Urteils: das LSG hätte über die tatsächlichen Umstände des Unfalls Beweis durch Vernehmung der am Unfallort anwesend gewesenen Zeugen erheben sowie u. U. den Kläger persönlich hören müssen (§§ 103 Satz 1, 2. Halbsatz; 111 Abs. 1; 153 Abs. 1 SGG). Die Verwertung des Strafurteils im Wege des Urkundenbeweises kann eine eigene Beweiserhebung nicht ersetzen (Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Auflage, Anm. 2 b cc zu § 128 SGG, S. II/144). Das Berufungsgericht war im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht (§§ 103, 153 Abs. 1, 157 SGG) gehalten, diejenigen Beweismittel zu verwenden, die nach den Umständen des Falles die geeigneten Mittel zur Sachverhaltserforschung darstellten (BSG in SozR Nr. 10 zu § 103 SGG). Dabei sind Feststellungen von Gerichten anderer Gerichtszweige, abgesehen von hier nicht interessierenden Ausnahmen, für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht bindend (Peters/Sautter/Wolff aaO S. II/146). Eine Beweisaufnahme und die daraufhin getroffenen Feststellungen in anderen Verfahren können allenfalls dann eine eigene Beweisaufnahme ersetzen, wenn die Beteiligten sie auch im sozialgerichtlichen Verfahren gelten lassen wollen (BSG in SozE BSG I/4 Nr. 48 zu § 128 SGG, Nr. 22 zu § 143 SGG). Das aber war hier nicht der Fall, denn der Kläger hatte im Berufungsschriftsatz ausdrücklich den Feststellungen des strafgerichtlichen Urteils bezüglich eines Hinweises des Schülers S auf die Gefährlichkeit des Sprengkörpers (vgl. Strafurteil S. 3) widersprochen und einen Antrag auf Durchführung einer Beweisaufnahme vor dem LSG (Anhörung von zwei Zeugen) gestellt. Das LSG hätte deshalb den Unfallhergang durch eine eigene Beweisaufnahme klären müssen, zumal die Feststellungen eines Strafurteils nach anderen Grundsätzen als im sozialgerichtlichen Verfahren zustande kommen. Zwar gilt auch im Strafprozeß der Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 244 Abs. 2 Strafprozeßordnung); andererseits ist dort im Zweifel zugunsten des Angeklagten zu entscheiden, ein Grundsatz, der im sozialgerichtlichen Verfahren keine Anwendung findet (BSG 6, 70). Vielmehr gelten hier die allgemeinen Grundsätze der objektiven Beweislast (BSG 6, 70 und in SozR Nr. 75, 83, 84, 85, 92 zu § 128 SGG).

Im vorliegenden Fall hat das LSG die Feststellungen des Strafurteils insbesondere zur Begründung seiner Überzeugung von der Kenntnis des Klägers von der Gefährlichkeit seines Tuns herangezogen. Der Strafrichter hatte jedoch für die Entscheidung über den nur S vorzuwerfenden Grad der Fahrlässigkeit im Zweifel alle für den Angeklagten günstigen Tatsachen zugrunde zu legen, die wiederum für die Frage der Kenntnis und der Fahrlässigkeit des Klägers gleichzeitig ungünstige Auswirkungen haben mußten oder konnten. Es ist daher nicht auszuschließen, daß eine Beweisaufnahme und die sich daran anschließende eigene Beweiswürdigung des LSG ohne Berücksichtigung des genannten strafverfahrensrechtlichen Grundsatzes zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Da sich zudem in der Verwaltungsakte der Beklagten kein Protokoll über Zeugenaussagen, sondern lediglich ein Protokoll über die polizeiliche Vernehmung des Klägers befindet, dessen Aussage mit den strafrichterlichen Feststellungen nicht in Einklang stand, hätte sich das LSG zu einer eigenen Sachaufklärung gedrängt sehen müssen. Das Unterlassen einer solchen und die Würdigung lediglich der Feststellungen des Strafurteils verstößt gegen §§ 103, 128 SGG.

Auf diesem Verfahrensfehler beruht auch das Urteil des LSG (§ 162 SGG). Denn es ist möglich, daß das LSG aufgrund eigener Beweiserhebung und -würdigung das Vorliegen eines Arbeitsunfalles (Schulunfalles) von seinem Rechtsstandpunkt aus nicht verneint hätte.

In sachlich-rechtlicher Hinsicht ist zunächst davon auszugehen, daß der Kläger auf dem Weg von der Schule nach Hause grundsätzlich unter Unfallversicherungsschutz stand (§§ 539 Abs. 1 Nr. 14 b, 550 Satz 1 RVO). Das LSG führt richtig aus, daß Voraussetzung für eine Leistungspflicht der Beklagten u. a. der ursächliche Zusammenhang zwischen dem streitigen Unfall und dem Schulbesuch ist. Nach der im Unfallversicherungsrecht herrschenden Verursachungslehre muß die versicherte Tätigkeit (hier: der Schulbesuch) eine wesentliche Bedingung für die Herbeiführung des Unfalls gewesen sein (BSG 12, 242, 245; 13, 9, 11; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: November 1975, S. 480 e mit weiteren Nachweisen). Die ursächliche Verknüpfung zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit muß so eng sein, daß daneben andere, mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängende Umstände in den Hintergrund treten und deshalb als rechtlich unwesentlich nicht zu berücksichtigen sind (BSG 8, 53, 55). Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall reichen die Feststellungen des LSG nicht aus, die Frage des Unfallversicherungsschutzes abschließend zu beurteilen.

Der Unfall des Klägers ist bei einer Spielerei (Hantieren mit Sprengkörpern) geschehen. Bei Arbeitnehmern schließt eine unabhängig vom Arbeitsvorgang stattfindende, den Zwecken des Betriebes zuwiderlaufende Spielerei grundsätzlich den Unfallversicherungsschutz aus. Es fehlt dann an einem ursächlichen inneren Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall. Rechtlich allein wesentliche Unfallursache ist vielmehr die Spielerei, selbst wenn eine Betriebseinrichtung beim Zustandekommen des Unfalls mitgewirkt hat (BSG SozR Nr. 55 zu § 542 RVO aF mit weiteren Nachweisen; BSG in BG 1971, 233, 234).

Etwas anderes muß aber u. U. dann gelten, wenn es sich bei dem Verletzten um einen Jugendlichen handelt. In einem solchen Fall kann der ursächliche Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit dadurch begründet werden, daß der Jugendliche durch die Gestaltung der Betriebsverhältnisse in die Lage versetzt wurde, sich durch leichtsinnige Spielereien besonderen Gefahren auszusetzen. Das kann insbesondere dann der Fall sein, wenn es im Betrieb an einer dem noch ungebändigten Spieltrieb angemessenen Beaufsichtigung des Jugendlichen gefehlt hat (BSG SozR Nr. 68 zu § 542 RVO aF; BSG in BG 1971, 233, 234, BKK 1975, 202; LSG Saarland, Breithaupt 1967, 655 ff). Vom BSG ist eine vom Betrieb ausgehende spezifische Gefahr vor allem dann anerkannt worden, wenn mehrere Jugendliche (Lehrlinge) in Lehrwerkstätten zusammengefaßt und dort als eine von älteren Arbeitnehmern getrennte Gruppe ausgebildet und beschäftigt wurden. In einem solchen Fall kann sich der jugendliche Spiel- und Nachahmungstrieb weitaus ungehemmter entfalten, als wenn die jungen Leute auf die Arbeitsplätze der erwachsenen Belegschaftsmitglieder verteilt werden (vgl. BSG in BG 1971 aaO).

Diese für Arbeitnehmer geltenden Rechtsgrundsätze finden im wesentlichen auch auf die Schülerunfallversicherung Anwendung. Durch das Gesetz über die Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237 ff) wurde nur der Kreis der Versicherten erweitert und in der Begründung der Bundesregierung zu diesem Gesetz auf die bisherige Praxis und Rechtsprechung zum Umfang des Versicherungsschutzes Bezug genommen (BT-Drucks. VI/1333 S. 3, 4). Demgemäß ist bei Prüfung des Versicherungsschutzes für Kinder und Schüler zu berücksichtigen, daß vielfach der Spieltrieb die Handlungsweise bestimmt und daß dieser - noch mehr als bei der Zusammenfassung von Lehrlingen in Lehrwerkstätten - durch die große Zahl der auf engem Raum zusammengekommenen Kinder verstärkt wird; denn Kinder und Jugendliche veranlassen sich erfahrungsgemäß gern zu Spielereien, die sie allein kaum unternehmen würden. Von der Betriebsstätte, hier der Schule, gehen gerade in Bezug auf den Spiel- und Nachahmungstrieb der Schüler zusätzliche Gefahren aus, die im Rahmen des Unfallversicherungsschutzes Berücksichtigung finden müssen (vgl. hierzu auch Boller, SozVers. 1971, 97, 103). Daher wird bei Unfällen, die sich während des erlaubten Aufenthalts der Schüler im Schulbereich ereignen und auf Spielereien beruhen die haftungsbegründende Kausalität eher zu bejahen sein als bei entsprechenden Unfällen jugendlicher Arbeitnehmer (vgl. auch Brackmann aaO S. 474 r).

Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem streitigen Unfall und dem Schulbesuch kann hier allerdings nicht in einer Aufsichtspflichtverletzung der Lehrer gesehen werden. Der Unfall geschah nach Schulschluß, als der Kläger sich schon außerhalb des schulischen Bereichs befand und deshalb nicht mehr der Aufsicht der Lehrer unterlag; deren Aufsichtspflicht endet in der Regel nach Unterrichtsschluß, wenn die Schüler das Schulgelände verlassen haben (vgl. Vollmar, Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten, 2. Auflage 1975 S. 55; Heckel/Seipp, Schulrechtskunde, 4. Auflage 1969, S. 235). Da aber der Schulweg unter Versicherungsschutz steht und zu den versicherten Tätigkeiten von Schülern nach dem Ausgeführten in weiterem Umfange als bei Arbeitnehmern auch Spielereien zu zählen sind, können diese auch auf Schulwegen nicht in jedem Falle versicherungsrechtlich ungeschützt sein. Versicherungsschutz ist vielmehr in der Regel zu bejahen, wenn sich die spielerische Betätigung eines Schülers noch im Rahmen dessen gehalten hat, was nach den Umständen des Falles nicht als völlig unverständlich oder vernunftwidrig zu erachten ist, mag es vielleicht auch unbesonnen oder leichtsinnig gewesen sein. Das LSG hat dabei der Tatsache, daß der Kläger sogenannter Fahrschüler war, und den hiermit zusammenhängenden Umständen keine ausreichende Bedeutung beigemessen. Da Fahrschüler, sofern sie öffentliche Verkehrsmittel benutzen, auf deren Abfahrtszeiten angewiesen sind, kann u. U. zwischen dem Schulende und der Abfahrt des Verkehrsmittels ein längerer Zeitraum liegen; am Unfalltage betrug dieser für den Kläger über eine Stunde. Wie bereits das SG ausgeführt hat, können in einem solchen Fall nicht die sonst üblichen Maßstäbe für die Zurücklegung des Heimweges angelegt werden. Ein weniger strenger Maßstab gilt hier sowohl für den Weg als solchen als auch für die unter Versicherungsschutz stehenden, die Wartezeit ausfüllenden Tätigkeiten des Fahrschülers. Bezüglich des Weges hat das LSG nicht abschließend entschieden, ob das Aufsuchen des Lutherplatzes noch innerhalb der einem Fahrschüler wegen der Wartezeit zuzugestehenden Wahl des Heimweges lag oder bereits einen nichtversicherten Umweg darstellte. Nach seiner Rechtsansicht brauchte das Berufungsgericht hierzu auch keine Feststellungen zu treffen. Diese wird es nun u. U. nachzuholen haben, wobei insbesondere die Länge der Wartezeit, das Fehlen eines Aufenthaltsraumes in der Schule, der Umstand, daß es sich beim Lutherplatz um einen sogenannten Schülertreffpunkt handelte, und die Entfernung des Lutherplatzes vom direkten Weg zwischen Schule und Bahnhof zu berücksichtigen sein werden.

Während der Wartezeit stehen - wie oben betont - alle Betätigungen, insbesondere auch Spielereien, der Fahrschüler unter Versicherungsschutz, die den Verhaltensweisen von Schülern des jeweiligen Alters entsprechen. Dabei spielt - entgegen der Auffassung des LSG - auch das Fehlen eines Aufenthaltsraumes in der Schule, die der Kläger zum Unfallzeitpunkt besuchte, eine Rolle. Zwar ist die Schule nach den unangegriffenen, nicht revisibles Landesrecht betreffenden Feststellungen des LSG (§ 162 SGG) rechtlich nicht zur Einrichtung eines solchen Raumes verpflichtet. Wo indessen ein solcher Aufenthaltsraum fehlt, ist die Gefährdung der Schüler bei Betätigung ihres Spiel- und Nachahmungstriebes durch die Eigenart der schulischen Verhältnisse erheblich größer, weshalb diese Umstände bei der Abgrenzung des Unfallversicherungsschutzes nicht unberücksichtigt bleiben können.

Wie die Fahrschüler die Zeit bis zur Abfahrt des Verkehrsmittels mangels eines Aufenthaltsraumes in der Schule überbrücken, hängt von der Person des einzelnen und den jeweiligen Umständen ab. Fallen die Handlungen dabei nicht völlig aus dem allgemein üblichen Rahmen, so bleibt der Betriebszusammenhang bzw. Schulzusammenhang gewahrt, da das Verhalten dann wesentlich durch die mit dem Schulweg (Pendeln) und dem Fehlen eines Aufenthaltsraumes in der Schule zusammenhängenden Verhältnisse mit verursacht worden ist. Auch insoweit ist der im Unfallversicherungsrecht geltende Grundsatz zu beachten, daß weder ein verbotswidriges noch ein leichtsinniges, sondern allenfalls ein höchst unvernünftiges Handeln den Unfallversicherungsschutz ausschließt (BSG SozR Nr. 77 zu § 542 RVO aF; Brackmann, aaO S. 486 m I und n; Lauterbach aaO Anm. 96 zu § 548). Das folgt aus § 548 Abs. 3 RVO und insbesondere aus § 553 RVO, wonach lediglich bei absichtlichem Herbeiführen eines Arbeitsunfalles kein Leistungsanspruch besteht. Die Handlungen eines Schülers auf dem Schulweg können bezüglich des eigenen Verschuldens nicht anders beurteilt werden als das Verhalten eines Arbeitnehmers auf dem Arbeitsweg. Bei diesem wird aber der Versicherungsschutz grundsätzlich nicht schon deshalb verneint, weil er z. B. von der fahrenden Straßenbahn abgesprungen oder infolge überhöhter Geschwindigkeit mit seinem Fahrzeug verunglückt ist (vgl. BSG 6, 164, 169). Voraussetzung ist allerdings immer, daß noch ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gegeben ist. Wenn daher das eigenverantwortliche Handeln des Geschädigten selbst derart im Vordergrund steht, daß die versicherte Tätigkeit für den Kausalverlauf nicht mehr als wesentlich angesehen werden kann, entfällt der Versicherungsschutz (vgl. auch von Schuch, BG 1956, 210, 211). Demgemäß hat der erkennende Senat Versicherungsschutz erst verneint, wenn der Geschädigte sich in so hohem Maße vernunftwidrig und gefahrbringend verhält, daß er mit großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen muß, es werde zu einem Unfall kommen (Urteil vom 27.1.1976 - 8 RU 64/75, S. 10 -; vgl. auch BSG 6, 164, 169; 30, 14, 15, 16). Dieses gilt grundsätzlich auch für die Beurteilung der Spielerei eines Schülers. Gerade bei einer Spielerei, die ihrer Natur nach zu einem erheblichen Teil keine vernunftmäßig gesteuerte Tätigkeit zu sein pflegt, kommt es entscheidend auf die Art der Spielerei und insbesondere auf die Fähigkeit des verunglückten Schülers an, deren Gefährlichkeit zu erkennen (Brackmann aaO S. 484 u; Nartschick in KV 1969, 34, 37).

Im vorliegenden Fall fehlt es an den für eine abschließende Entscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen. Daß der Kläger im Unfallzeitpunkt 17 Jahre und 3 Monate alt war und die Oberstufe eines Gymnasiums besuchte, reicht nicht aus, um einen Ausschluß des Unfallversicherungsschutzes annehmen zu können. Für die zur Erkennung von Gefahren erforderliche Einsichtsfähigkeit kann keine allgemeine Altersgrenze festgesetzt werden (Brackmann aaO S. 484). Wie der 2. Senat des BSG mehrfach entschieden hat, kommt es auch insoweit auf die Umstände des Einzelfalles an; in der Regel wird allerdings mit Vollendung des 18. Lebensjahres die notwendige Einsichtsfähigkeit vorliegen, um die insbesondere von Sprengkörpern drohenden Gefahren abschätzen zu können (vgl. BSG SozR Nr. 68 zu § 542 RVO aF, BSG in BKK 1975, 202; Vollmar aaO S. 39). Andererseits ist sogar bei einem Zwanzigjährigen Versicherungsschutz bei einer Spielerei im Betriebe nicht schlechthin verneint worden (BSG SozR Nr. 55 zu § 542 RVO aF). Auch aus dem Besuch der Oberstufe eines Gymnasiums allein kann nicht zuverlässig auf den Reifegrad des Klägers und seine Einsichtsfähigkeit für gefährliche Situationen geschlossen werden. Entscheidend ist vielmehr, ob der Kläger unter Berücksichtigung aller Umstände erkennen konnte, daß der Sprengkörper bereits in der Hand explodieren würde (vgl. die zuletzt genannte Entscheidung des BSG aaO, Bl. Aa 54). Die Revision führt zu Recht aus, daß diese Kenntnis des Klägers nicht bereits aus dem Umstand zu folgern ist, daß er wegen vorbeigehender Passanten mit dem Werfen des Sprengkörpers innegehalten hatte. Hieraus konnte das LSG nur schließen, daß der Kläger um die Gefährlichkeit des Sprengkörpers im allgemeinen, insbesondere im Zeitpunkt der Explosion wußte, nicht aber konnte es daraus entnehmen, daß der Kläger auch die Gefahr einer Detonation bereits in der Hand kannte oder erkennen konnte. Das Berufungsgericht hat zwar die Feststellung des Strafurteils übernommen, der Schüler S habe den Kläger darauf hingewiesen, daß der Sprengkörper sofort explodiert, wenn man ihn nur leicht drücke. Diese - wie auch die übrigen Feststellungen des Strafurteils - sind aber vom Kläger angegriffen worden, das LSG konnte sie sich nach dem oben Ausgeführten nicht ohne eigene Beweiserhebung zu eigen machen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Kläger aufgrund des ihm bis zum Unfall bekanntgewordenen Ablaufs der Spielereien mit den Knallkörpern annehmen konnte, die Explosion trete erst beim Aufprall auf dem Erdboden ein. Hierbei ist vor Bedeutung, was zwischen dem Kläger und dem Schüler S und ggf. auch zwischen den übrigen anwesenden Schülern über die Art und Gefährlichkeit der Sprengkörper gesprochen worden ist. In diesem Zusammenhang wird das Berufungsgericht auch den Vortrag des Klägers zu berücksichtigen haben, er sei von den Mitschülern unter "psychischen Zwang" gesetzt worden. Sollte sich ergeben, daß das Werfen des Sprengkörpers unter den am Unfallort Anwesenden als "Mutprobe" angesehen wurde, weil bereits das Hantieren mit den Sprengkörpern als gefahrbringend galt, so könnten sich allerdings hieraus Anhaltspunkte für eine den Versicherungsschutz möglicherweise ausschließende Kenntnis des Klägers von der besonderen Gefährlichkeit seines Tuns ergeben.

Nach alledem war der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen, um diesem Gelegenheit zu geben, die erforderlichen eigenen Feststellungen nachzuholen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 42

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