Gemeinsam unehrlich
Eine Studie von Verhaltensökonomen an der LMU München, die aktuell im Magazin „Management Science“ veröffentlicht ist, sorgt für neuen Diskussionsstoff in dieser Frage, denn sie zeigt: Sobald Menschen in Gruppen Entscheidungen gemeinsam fällen, werden sie unehrlicher.
Menschen lügen seltener, wenn sie allein entscheiden
Die Wissenschaftler baten insgesamt 273 Studienteilnehmer zu einem Laborexperiment. Die Probanden wurden aufgefordert, ein Video eines Würfelwurfs zu beobachten und anschließend die Würfelzahl zu nennen. Je höher die genannte Augenzahl, desto höher war eine dafür versprochene Gratifikation. Es bestand also ein Anreiz, die Unwahrheit zu sagen, nämlich eine möglichst hohe Zahl, zu nennen. Die Aufgabe wurde sowohl einzelnen Probanden, die alleine entschieden, als auch Probanden, die sich über ihr Ergebnis in einem anonymen Gruppenchat abstimmten, gestellt.
"Dishonesty Shift": Gruppenprozesse begünstigen unehrliches Verhalten
„Unser Ergebnis ist eindeutig: Menschen lügen seltener, wenn sie alleine entscheiden“, sagt Martin Kocher, Inhaber des Lehrstuhls für Verhaltensökonomik an der LMU sowie Leiter des Instituts für Höhere Studien in Wien. Gruppen verhalten sich demnach häufiger unehrlich. Der Grund für diesen „dishonesty shift“, wie die Forscher das Phänomen nennen, ist, dass sich die Mitglieder einer Gruppe über ihre Normvorstellungen und die Argumente dafür und dagegen austauschen: „Es liegt am Feedback. In Gruppen stimmen die Mitglieder ihre Vorstellungen, was richtig ist und was nicht, aufeinander ab. Dadurch gelingt es den einzelnen Beteiligten eher, die Norm umzuinterpretieren, als wenn sie allein entscheiden müssten“, erläutert Lisa Spantig, Laborleiterin und Doktorandin am Lehrstuhl, den Prozess. Wie die Studie auch zeigt, gehen die Teilnehmer nach solchen Gruppenprozessen eher davon aus, dass andere auch lügen und verhalten sich dann entsprechend.
"In den großen Wirtschaftsskandalen haben meist Gruppen gehandelt"
In dem Experiment wurde dieser Mechanismus unter abstrakten Bedingungen ermittelt. So gab es beispielsweise keine Bestrafung für unehrliches Verhalten. Für Unternehmen könnte eine Lehre aus den Studienergebnissen sein, auf solche möglichen unerwünschten Teamprozesse besonders zu achten. „Es ist auffallend, dass in den großen Wirtschaftsskandalen meist Gruppen unrecht gehandelt haben“, sagt Spantig. So ist etwa von einem Analysten des US-Energieriesen Enron, der durch Bilanzbetrug seiner Manager sogar Pleite ging, das Zitat überliefert: „It was no great secret what we were doing“.
Genau hinschauen: Unerwünschte Teamprozesse und Fehlentwicklungen in der Unternehmenskultur vermeiden
Auch der Psychoanalytiker und Organisationsberater Thomas Giernalczyk hat sich mit den Ursachen für schwerwiegendes Fehlverhalten von Managern oder Mitarbeitern beschäftigt. Im Interview, das die Haufe Online-Redaktion 2015 anlässlich des VW-Dieselskandals führte, erläutert er, wie es zu Lügen und Betrug kommt und wie Führungskräfte solche Fehlentwicklungen in der Unternehmenskultur vermeiden können. Sein Fazit: "Vertrauen macht Lügen unwahrscheinlicher".
Mechanismen der Macht
Stanford-Professor und Leadership-Experte Jeffrey Pfefferle erklärt das Fehlverhalten von Führungskräften mit empirisch belegten psychologischen Mechanismen der Machtgewinnung und Machterhaltung: "Wer erfolgreich sein will, darf nicht bescheiden sein, sondern muss möglichst viel Eigenwerbung machen. Und Lügen sind nicht nur allgegenwärtig, sondern auch sehr effektiv", sagte er im Interview mit der Zeitschrift Wirtschaft + Weiterbildung. Außerdem weist er auf das sogenannte Konzept der moralischen Lizensierung hin: "Wenn Menschen sich einmal ethisch oder moralisch verhalten haben, fühlen sie sich danach freier, sich unmoralisch und unethisch zu verhalten. Das ist so was wie ein Ablasshandel, der vielfach empirisch belegt ist."
Individuelle Charakterzüge als Ursachen
Doch neben all diesen strukturellen Ursachen, wie Gruppenprozesse, Unternehmenskultur und psychologische Mechanismen in Machtsystemen, darf der Blick auf die Persönlichkeit einzelner Menschen im Unternehmen nicht zu kurz kommen. So haben verschiedene Wissenschaftler gezeigt, dass beispielsweise psychopathische oder narzisstische Persönlichkeiten eher zu Lügen und Betrug neigen. Erst kürzlich kam eine Studie der TU Kaiserslautern zu dem Ergebnis, dass Psychopathen in Unternehmen durch ihre Fähigkeit, ohne Gewissensbisse zu lügen und zu manipulieren, häufiger wirschaftskriminellen Handlungen zustimmen und somit gegen Compliance-Richtlinien verstoßen als ihre nicht-psychopathischen Kollegen.
Ähnlich verhält es sich bei Narzissten: "Da Vertrauen, Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit für Narzissten keine Rolle spielen, sind sie auch nicht integer, sondern biegen sich die Wirklichkeit so zurecht, wie sie ihnen in den Kram passt. Unverfrorene Lügen und die schamlose Präsentation 'alternativer Fakten' gehören zu den hervorstechenden Machttechniken ausgeprägter Narzissten", erläutert Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth im Interview mit der Wirtschaft + Weiterbildung.
Compliance-System oder Ethik-Kodex etablieren
Nicht immer kommt es gleich zu einem großen Skandal, wenn einzelne Mitarbeiter oder Gruppen lügen. Laut einer aktuellen Studie wirkt sich aber bereits unethische Führung negativ auf das Kaufverhalten von Kunden aus.
Um dem vorzubeugen, empfehlen die Autoren der eingangs vorgestellten Studie der LMU München etwa, einen Ethik-Kodex einzuführen: „Um die Erosion wesentlicher Normvorstellungen und ehrlichen Verhaltens in Gruppen zu verhindern, sollten Firmen starke Verhaltensregeln aufstellen und überprüfen“, so Simeon Schudy, Assistenzprofessor an der LMU.
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