Personalarbeit in der Pflege

Die Pflegeberufe in Deutschland befinden sich im Teufelskreis: Schlechte Arbeitsbedingungen sorgen für einen eklatanten Fachkräftemangel, die personelle Unterbesetzung wiederum erschwert die Arbeitssituation. Durchbrechen kann dieses System nur das Personalmanagement. Doch um den notwendigen Wandel einzuleiten, muss es sich von den überkommenen Strukturen lösen.

Rund 1,17 Millionen Beschäftigte in Deutschland arbeiten in Krankenhäusern oder Kliniken, rund 716.000 in der stationären oder teilstationären Pflege. Und sehr viele von ihnen sind unzufrieden – mit extremem Zeitdruck, starren Schichtplänen, die ein Familienleben neben dem Beruf kaum zulassen, unzuverlässiger Planung, zu wenig Gehalt oder zu wenig Wertschätzung. "Unser Gesundheitssystem gleicht einem Patienten mit einer offenen Wunde, die einfach nicht heilen will, egal wer gerade an ihr herumdoktert. Eine Menge Leute […] denken darüber nach, was als Nächstes getan werden muss […]. Aber es fehlt ihnen an Mut, Entschlossenheit, Mitteln und Wissen, den Kranken über den Berg zu bringen." Die Krankenschwester Nina Böhmer bringt in ihrem aktuellen Buch "Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken" auf den Punkt, worunter viele Pflegekräfte und Mitarbeitende im Gesundheitssektor leiden: Trotz der gesellschaftlichen und sozialen Bedeutung ihres Berufes befinden sich die Arbeitsbedingungen auf einem erbärmlich niedrigen Niveau.

Diese Probleme sind nicht neu und keinesfalls unbekannt. Schon 2016 nahm die Leopoldina in einem Thesenpapier Stellung zu den Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen ("Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem") und verlangt in ihrer letzten These nach festen Rahmenbedingungen für das Gesundheitswesen, da die politische Zurückhaltung bei der Gestaltung des Krankenhauswesens in Deutschland dazu führe, "dass die Probleme über die DRGs (gemeint sind „diagnosebezogene Fallgruppen", die die Grundlage der leistungsorientierten Vergütung im Krankenhaus bilden, Anm. der Redaktion) auf die praktische Arbeitsebene nach unten "durchgereicht" werden – mit den bekannten unerwünschten Folgen: Arbeitsverdichtung, Unzufriedenheit der Mitarbeitenden, Personalmangel, Fallzahlsteigerungen ohne medizinische Gründe und gesamtwirtschaftlich hohe Kosten, ohne dass ein entsprechender gesundheitlicher Nutzen generiert würde."

Arbeitsbedingungen: vor Corona schlecht, während Corona schlechter 

Vielen, in Bevölkerung wie Politik, fiel erst während der Coronakrise auf, was Pflegekräfte und Beschäftigte im Gesundheitsbereich leisten. Dankesworte der Kanzlerin, Beifallskundgebungen von bundesdeutschen Balkonen aus und besondere Rabatte für "unsere Helden" sollten den neu erkannten Wert der Gesundheit und der für sie im hohen Maße Verantwortlichen bekunden und sichern. Mit wenig Nachhaltigkeit oder Erfolg – die Helden sind inzwischen am Limit der Belastungsfähigkeit angekommen. Welchen Stressoren die Gesundheitsfachkräfte in Alten- und Pflegeheimen, bei der ambulanten Versorgung Schwer(st)kranker und insbesondere auf Covid-19- und Intensivstationen der Kliniken seit einem Jahr dauerhaft ausgesetzt sind, listet die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin in einem Appell an die Bundesregierung auf: 

  • deutlich vermehrte Konfrontation mit Notfallsituationen, Tod und teilweise leidvollem Sterben
  • Personalausfälle durch Covid-19-Erkrankungen oder Quarantäne
  • physische und psychische Herausforderung bei der Pflege (beatmeter) Covid-19-Patienten und -Patientinnen 
  • eigenes Infektionsrisiko, Covid-19-Stigmatisierung
  • erhöhter Betreuungsaufwand durch Vereinsamung von Patienten und Patentinnen sowie Heimbewohnern in Folge von Besuchsverboten

Eine Massenflucht aus dem Beruf befürchtet deshalb der Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger, der International Council of Nurses (ICN). In fast jedem fünften Land der Welt, so teilt er über die Deutsche Presseagentur mit, zwinge der immense Druck der Pandemie zahlreiche Pflegekräfte im Gesundheitswesen zur Aufgabe ihres Jobs.  Als Gründe für die Fluchtbewegung kämen die Arbeitslast, die mangelhafte Ausstattung der Kliniken, die Gefahr eines Burnouts und generell der Stress im Beruf in Betracht. "Die Belastung, unter der Pflegekräfte stehen, ist inakzeptabel, und es ist keine Überraschung, dass so viele den Druck spüren und entscheiden, dass sie in ihren geliebten Jobs nicht mehr weitermachen können", so ICN-Präsidentin Annette Kennedy. Die Personalsituation werde verschlimmert durch den strukturellen Engpass. Schon am Beginn der Pandemie vor rund einem Jahr habe es mit weltweit 27 Millionen Pflegerinnen und Pflegern sechs Millionen Pflegekräfte zu wenig gegeben. Bis 2030 würden weitere vier Millionen altersbedingt ausscheiden, erklärt Kennedy. 

2030 werden in Deutschland eine Millionen Pflegekräfte fehlen   

Für Deutschland sehen die Zahlen nicht anders aus: Berufe in der Pflege und im Klinikbereich gelten als extrem unattraktiv, der Fachkräftemangel ist hoch. Vor Ausbruch von Corona prognostizierten Experten des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in einem Gutachten ("Fachkräftebedarf im Gesundheits- und Sozialwesen"), dass im Jahr 2030 die Nachfrage nach Fachkräften im Gesundheits- und Sozialwesen mit 4,9 Millionen Vollkräften um 1,3 Millionen Vollkräfte höher liegen wird als das verfügbare Angebot (Worst-Case-Szenario). Nach einer Analyse von PWC fehlen aktuell im Gesundheitswesen annähernd 56.000 Ärzte und gut 140.000 nichtärztliche Fachkräfte, die Personallücke bis 2030 schätzt das Beratungsunternehmen etwas kleiner ein als das Worst-Case-Szenario des RWI, aber immerhin auch auf eine Million. 

Fachkräftemangel erweist sich als Teufelskreis

Doch was tun? Tatsächlich können die Missstände im Gesundheitssektor und das Image des unattraktiven Arbeitgebers nicht allein auf die Unterfinanzierung des Gesundheitssystems oder zu geringe Gehälter zurückgeführt werden. Zwar hatten sich die Krankenhäuser nach Einführung der Fallkostenpauschalen zum extremen Sparkurs, auch hinsichtlich Personaleinsatz und der Gestaltung der Arbeitsbedingungen verpflichtet, doch hier ist inzwischen doch einiges nachgearbeitet worden. Mit Einführung des Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes (PpSG) im Januar 2019 ist die Umsetzung von vielfältigen Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf möglich, ein zweites Pflegestellen-Förderprogramm sorgt für die finanziellen Grundlagen zur Neueinstellung oder Aufstockung vorhandener Teilzeitstellen von ausgebildetem Pflegepersonal. 

Spürbare Entlastungen im Alltag der Pflegekräfte durch eine bessere Personalausstattung brachten all diese Möglichkeiten bisher jedoch nicht. Von den 2019 neu ermöglichten 13.000 Pflegestellen in der Altenpflege waren im Mai 2020, so der GKV-Spitzenverband gegenüber den Medien, gerade 2.600 besetzt. Auch die Hoffnungen, die im Gesundheitssektor sehr stark vertretene Gruppe der Teilzeitkräfte zur Aufstockung motivieren zu können, schlagen fehl. Wie eine Onlineumfrage des deutschen Berufsverbands für Pflegefachkräfte zeigt, waren 2019 nur magere 12,5, Prozent der teilzeitbeschäftigten Pflegekräfte überhaupt bereit, über eine Aufstockung nachzudenken. Die Begründungen zeigen einen Teufelskreis: Hohe Arbeitslast und Arbeitsverdichtung, kurzfristiges Einspringen, unzuverlässige Dienstplanung sind einige der wichtigsten Gründe, warum Teilzeitkräfte ihre Arbeitszeit nicht erhöhen wollen. Daneben werden mangelnde Wertschätzung und schlechte Führung als Gründe genannt, die die Beschäftigten daran hindern, noch mehr Zeit in den Beruf zu stecken. 

Ansätze für eine bessere Arbeitsgestaltung 

Der Pflegenotstand in Deutschland ließe sich durch bessere Arbeitsbedingungen deutlich abmildern, meinen die Autoren des Barmer-Pflegereports 2019. Bis zu 26.000 Arbeitskräfte mehr wären ihrer Ansicht nach auf einen Schlag möglich, wenn die Arbeitssituation und damit die Gesundheit der Pflegerinnen und Pfleger besser wäre. "Am Geld alleine liegt es nicht, dass es zu wenige Pflegekräfte gibt," erklärt auch der Gesundheitsminister in einem Interview der Augsburger Allgemeinen Zeitung, vieles sei auch eine Frage der Organisation. 

Spahn nimmt damit die Führungskräfte in den Kliniken, Krankenhäusern, Pflegeheimen und Pflegediensten in die Pflicht. Nicht zu Unrecht, denn letztlich müssen sie die Arbeitsbedingungen so gestalten, dass Überlastungen vermieden und die Berufe im Gesundheitssektor attraktiver werden. Hierfür sind gezielte Strategien in den verschiedenen Bereichen der  Unternehmensorganisation und Personalführung notwendig. Wo angesetzt werden sollte, wie der Wandel gestaltet werden kann und Mut machende Beispiele beleuchten wir in diesem Schwerpunktthema. Die wichtigsten Themen, die mit neuen Führungs- und  Zusammenarbeitskonzepten angegangen werden sollten, sind die folgenden:  

Vertrauenskultur und kooperatives Miteinander: Zu viel Bürokratie und stark von Hierarchien und Stablinien-Organisation geprägte Strukturen demotivieren erfahrene Pflegekräfte und lassen einen Pflegeberuf für den Nachwuchs uninteressant erscheinen. Mehr Übernahme von Verantwortung und größere Entscheidungsspielräume für den einzelnen Mitarbeiter sind aber auch im Bereich der Krankenversorgung und Pflege durchaus möglich. New-Work-Ansätze wie Mitbestimmung und Selbstverantwortung, ganzheitliche, kooperative Führungsansätze, Feedback-Kultur und vor allem Top-Down stattfindende kontinuierliche Veränderungsprozesse könnten die Attraktivität der einzelnen Tätigkeiten entscheidend verbessern. Professor Michael Löhr, der in der Stabsgruppe für Klinikentwicklung und Forschung des LWL Klinikum Gütersloh an der Umsetzung agiler Strukturen im Klinikmanagement arbeitet, sieht als grundlegende Voraussetzung hierfür einen gemeinsamen Wertekanon, den das Management der Klinik entwickeln muss. 

Verbesserung der Vereinbarkeit von Familienleben und Beruf: Der hohe Anteil an Teilzeitbeschäftigten (42 Prozent) im Pflegebereich ist auch darauf gegründet, dass Teilzeit bislang für viele Mitarbeitende die einzige Möglichkeit ist, Kinderbetreuung oder die Pflege von Familienangehörigen mit dem Beruf zu vereinbaren. Das Netzwerkbüro "Erfolgsfaktor Familie" empfiehlt zur Umsetzung familienbewusster Arbeitszeitinstrumente Führungskräften in Pflege- und Klinikeinrichtungen dringend die Abkehr von der Präsenz- zur Ergebnisorientierung. Außerdem müssten vereinbarkeitsorientierte Arbeitszeiten durch Kennzahlen, Zielvereinbarungen sowie Regeln für die Planung und Steuerung der Arbeitszeiten konkretisiert sein. Die Einhaltung zulässiger Zeitsaldenbandbreiten, Teilzeitquoten oder die Reduzierung des Abrufs von Beschäftigten an arbeitsfreien Tagen sind beispielhafte Parameter, an denen sich familienbewusste Arbeitszeiten messen lassen. Fixe Besprechungstermine an Dienstzeiträndern oder die direkte Verknüpfung von Arbeitszeitverbrauch mit Zusatzvergütungen oder anderen Anreizen sollten komplett abgebaut werden. Übrigens muss zur Kinderbetreuung während der Arbeitszeiten nicht zwangsläufig ein klinikeigener Betriebskindergarten eingerichtet werden. Möglichkeiten zur Erleichterung der Kinderbetreuung ergeben sich auch durch externe Dienstleister, Kinderbetreuungszuschüsse, Belegplätze in bereits vorhandenen Einrichtungen oder Zusammenschlüsse zur Kinderbetreuung im Verbund. 

Gesundheitsmanagement einführen: Nach dem Barmer Gesundheitsreport "Pflegefall Pflegebranche" liegt der Schnitt der Fehltage bei Berufstätigen in der Krankenpflege deutlich über denen anderer Branchen. Die drei wichtigsten fehlzeitenrelevanten Diagnosen in Pflegeberufen waren zu Beginn der Pandemie Atemwegsinfektionen, Rückenschmerzen und Depressionen. Zur Entlastung und Steigerung der Leistungsfähigkeit kann ein strategisch eingeführtes betriebliches Gesundheitsmanagement beitragen. Nachdem durch die Pandemie psychische wie physische Belastungen noch gestiegen sind, sollte auch präventive Hilfe für Gesundheitsfachkräfte durch Fachkräfte aus dem Bereich der (Arbeits-)Psychologie, Psychotherapie, Sozialarbeit oder Seelsorge in das Gesundheitsmanagement im Gesundheitssektor aufgenommen werden. 

Digitalisierung ausbauen: Noch immer zeigen sich zu viele Arbeitgeber und Führungskräfte im Gesundheits- und Pflegesektor skeptisch gegenüber arbeitszeitsparender, innovativer Technologie. Bürokratieabbau und die Reduzierung ungeliebter Standardtätigkeiten durch die Digitalisierung könnten aber zum einen Arbeitszeit einsparen, zum anderen Freiraum für selbst zu gestaltende Arbeits- und Optimierungsprozesse schaffen und die empfundene Sinnhaftigkeit der Tätigkeit erhöhen. In komplexen Überwachungs-, Logistik- und Personaleinsatzplanungsaufgaben ist der Einsatz moderner Technologien unausweichlich. 

Hoffnung für einen sinnvollen Beruf 

Der Blick auf die Situation im Gesundheits- und Pflegebereich zeigt die hohen Anforderungen und vielfältigen Aufgaben, die Management und Personalverantwortliche angehen werden müssen, um die Attraktivität des Pflegeberufs zu verbessern und um die vorhandenen Mitarbeiter leistungsfähig zu halten. Hoffnung, dass diese Anstrengungen auf fruchtbaren Boden fallen werden, gibt die aktuelle Studie der Königssteiner Gruppe "Sinnstiftung im Beruf": So finden derzeit vor allem junge Menschen Pflegeeinrichtungen als Arbeitgeber attraktiver als noch vor der Krise. Bei jedem fünften zwischen 18 und 29 Jahren  ist das Interesse an einem Arbeitgeber aus der Pflege in den vergangenen zwölf Monaten gestiegen.


Dieser Beitrag ist Teil des Schwerpunkts in Personalmagazin 5/2021 zur HR-Arbeit im Gesundheitssektor. Lesen Sie die gesamte Ausgabe auch in der Personalmagazin-App.


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Schlagworte zum Thema:  Gesundheit, Pflege, Pflegekraft