Lernkultur bei der Bundesagentur für Arbeit

Die Bundesagentur für Arbeit möchte beim Thema "Qualifizierung für die Digitalisierung" mit gutem Beispiel vorangehen, unter anderem mit einer frei­willigen Lernbegleitung durch Kollegen. BA-Personal­vorständin Valerie Holsboer treibt die neue Lernkultur mit persönlichem Engagement voran.

personalmagazin: Frau Holsboer, was kommt mit der Digitalisierung auf uns zu: Erwartet uns eine große Jobvernichtungswelle oder werden eher viele neue Jobs auf dem Arbeitsmarkt geschaffen?

Valerie Holsboer: Wir unterscheiden zwischen Automatisierung und Digitalisierung. Wenn Tätigkeiten wegfallen, dann durch Automatisierung, also die Übernahme von Prozessschritten durch Computerprogramme und Roboter. Die Digitalisierung kann hingegen durchaus ein Jobtreiber sein. Unser Wissenschaftsinstitut IAB kommt aufgrund aktueller Untersuchungen zu dem Schluss, dass ungefähr 1,5 Millionen Tätigkeiten durch die Digitalisierung verschwinden könnten, aber im gleichen Maß neue Tätigkeiten entstehen. Die Gleichung geht jedoch nicht eins zu eins auf. Die Herausforderung besteht darin, möglichst viele Menschen durch Qualifizierung in die digitalisierte Arbeitswelt mit hinüber zu nehmen.


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Digitalisierung bei der Bundesagentur für Arbeit

personalmagazin: Wie sieht die Digitalisierung konkret bei der Bundesagentur für Arbeit aus?

Holsboer: Eines unserer Ziele ist es, interne Prozesse zu straffen – zum Beispiel, indem wir Medienbrüche bei der Antragsverarbeitung vermeiden. Auch bei der Beratung möchten wir unsere Kunden digital unterstützen. Wir haben beispielsweise ein Selbsterkundungstool entwickelt, über das junge Menschen für ihre Berufsorientierung erste Empfehlungen erhalten. Sie kommen so besser vorinformiert zu uns. Wir werden auch Auswertungsmöglichkeiten für die räumliche sowie fachliche Vermittlung oder Qualifizierung weiterentwickeln und verfügen hierfür über einen riesigen Datenschatz. Ich möchte allerdings nicht, dass ein automatisiertes Verfahren den Umgang vom Vermittler oder Berater mit dem Kunden gänzlich ersetzt. Es soll eine Unterstützung sein. Der zwischenmenschliche Faktor hat große Bedeutung, etwa beim Phänomen des sogenannten „erwartungswidrigen Eintritts“: Es gibt Menschen, bei denen man nach Aktenlage denkt, das wird nichts mehr mit der Integration in den Arbeitsmarkt und dann klappt es eben doch noch. Diese Möglichkeit, eng, persönlich und individuell mit Menschen zu arbeiten, müssen wir offenhalten. 

personalmagazin: Und wie sieht das im HR-Bereich der BA aus?

Holsboer: Auch im HR-Bereich stellen wir schrittweise auf digitale Prozesse um. Wir haben zum Beispiel bisher keine digitale Personalakte und damit keine digitalen Matching-Möglichkeiten. Wir können im Moment nur analog herausfinden, welche unserer Mitarbeiter bestimmte Skills haben. Da ist noch viel Musik drin. Wir möchten künftig die administrativen Aufgaben reduzieren und mehr Freiraum für das Talent Management und die Personalentwicklung schaffen. Entscheidend ist: Durch neue digitale Lösungen fällt nichts weg, wir setzen nur auf einem höheren qualitativen Niveau an. 

Die interne Qualifizierungsstrategie der BA

personalmagazin: Wie sieht Ihre Qualifizierungsstrategie aus?

Holsboer: Wir müssen den Begriff „lebenslanges Lernen“ neu denken. Ich weiß, das sagt jeder seit Jahren – das fühlt sich inzwischen an wie ein Kaugummi, der zu lange im Mund ist. Aber lebenslanges Lernen war noch nie so wichtig wie heute. Schon früher hatte man ohne Qualifizierung das größte Risiko arbeitslos zu werden. Durch Strukturwandel und Digitalisierung können nun jedoch auch Menschen, die eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen haben, das Thema nicht mehr für den Rest ihres Lebens abhaken. Egal ob es um eine komplett neue Qualifizierung oder um kleine Learning Nuggets geht – wir brauchen die Bereitschaft, ständig weiter zu lernen. Gerade prüfen wir vor diesem Hintergrund in der BA die Prozesse und Weiterbildungsangebote auf ihre Tauglichkeit. Das ist wie das Ausmisten bei einem Umzug: Wir nehmen jeden Becher aus der Vitrine und überlegen, nehmen wir das in die neue Wohnung mit oder nicht.


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personalmagazin: Was hat diese Prüfung bislang ergeben?

Holsboer: Wir haben auch in der Vergangenheit viel qualifiziert. Die BA bietet ihren Beschäftigten ein tolles Seminarangebot und viele digitale Lernprogramme. Lernen mithilfe von Online-Learnings in den Alltag zu integrieren, ist insbesondere für Teilzeitkräfte und Menschen mit Familienverpflichtungen wichtig. Sie können sich nicht tage- oder wochenlang in Seminare setzen. 

Wir merken aber, dass viele diese Möglichkeiten noch nicht kennen oder – das gilt insbesondere beim konsequenten On­boarding – nicht nutzen. Zudem müssen wir uns stärker die Frage stellen, was eigentlich bei diesen Lernangeboten herumkommt. Vielen Lernenden fällt es schwer, die Inhalte in der Praxis anzuwenden. Wenn alle im Team die Dinge immer rechts herum machen und jetzt kommt jemand aus dem Seminar und hat gelernt, dass es links herum besser geht, stößt das nicht immer auf Begeisterung. Da gilt man schnell als Schlaumeier. Wir denken Qualifizierung künftig noch individueller und auch teambezogen. Sie können Menschen qualifizieren, wie Sie wollen – das bringt nichts, wenn in der Führungs- und Teamkultur etwas nicht stimmt. Außerdem sehen viele Beschäftigte Präsenzseminare mehr als Raum der Begegnung mit anderen. Wenn wir mehr Austauschmöglichkeiten brauchen, sollten wir diese schaffen. Bei Weiterbildungen geht es aber darum, dass Erlerntes auch im Berufsalltag ankommt.

500 Lernbegleiter bereiten den Weg zur Digitalisierung bei der BA

personalmagazin: Wie möchten Sie einen solchen Praxistransfer denn stärker fördern?

Holsboer: Zum Beispiel mit unserem Instrument der „individuellen Lernbegleitung“. Das gibt es schon seit einigen Jahren bei der BA, wir haben dem Ansatz nun aber neuen Schwung verliehen. Aktuell haben wir 500 Lernbegleiter: Das sind Beschäftigte, die eine methodische Zusatzausbildung haben und ihren Kollegen bei einem Lernziel helfen – und zwar nicht als Fachexperten. Das ist eine Art Lerncoaching. Wenn beispielweise jemand über ein Online-Tool eine Qualifizierung durchläuft, sitzt er oder sie für gewöhnlich recht einsam am Computer. Mit einem Lernbegleiter hat man jemanden, mit dem man regelmäßig die Lernfortschritte reflektieren kann. Das schafft zusätzliche Lernmotivation. Jeder Beschäftigte kann eine Lernbegleitung in Anspruch nehmen oder sich zum Lernbegleiter ausbilden lassen. Wichtig ist die absolute Freiwilligkeit: Niemand darf dazu verdonnert werden. Denn es soll ja der Funke vom Lernbegleiter zum Kollegen überspringen. 


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personalmagazin: 500 Lernbegleiter bei 95.000 Mitarbeitern, reicht das aus? 

Holsboer: Jeder Lernbegleiter kann mehrere Coachees haben. Die Frequenz der Treffen ist dabei sehr unterschiedlich – zum Beispiel 30 Minuten pro Woche oder auch nur einmalig eine Stunde. Die Lernbegleiter können bis zu 50 Prozent ihrer Arbeitszeit darauf verwenden, je nach Nachfrage. Aber es soll auch nicht so sein, dass jetzt jeder Beschäftigte den ganzen Tag einen anderen auf dem Schoß sitzen hat. Wir werden vielleicht in Zukunft noch ein paar Lernbegleiter mehr haben, aber wir brauchen keine Eins-zu-Eins-Spiegelung der Belegschaft. Leider wird das Instrument bisher nicht genug in Anspruch kennen – und zwar nicht nur, weil die Beschäftigten noch nichts davon gehört haben. Was uns am meisten am lebenslangen Lernen hindert, ist die Defizitorientierung: das Denken, jemand bringt es gerade nicht im Job und muss deswegen in eine Schulung. Das macht Angst, dass einen womöglich das Qualifizierungspendel trifft. 

Neue Lernkultur braucht Unterstützung von der Führung

personalmagazin: Wie gehen Sie mit dieser Defizitorientierung um?

Es ist kein Manko, wenn jemand eine Lernbegleitung anfragt, sondern echte Stärke. Wer privat einen Personal Trainer für die eigene Fitness hat, wird ja auch nicht schief angeschaut, sondern es heißt eher, „Bow, wie modern!“. Beim Thema Lernen ist man da aber immer noch verschämt. Wir möchten lebenslanges Lernen komplett „entschämen“ und Lust darauf machen. Wenn wir das nicht selbst mit voller Überzeugung leben, wie wollen wir dann unsere Kunden für Weiterbildung begeistern? Wir brauchen eine neue kulturelle Akzeptanz. Das muss ganz oben beim Vorstand beginnen und sich über die Führungskräfte bis zu den Mitarbeitenden wie ein Lauffeuer ausbreiten. Wir haben Mitte Januar alle Lernbegleiter und interessierte Unternehmen in einen großen Kinosaal in Hannover eingeladen. Durch die Veranstaltung konnten alle sehen, Donnerwetter, das ist etwas wirklich Wichtiges, was die Lernbegleiter machen. Diese Energie war enorm. Viele Lernbegleiter fragten aber nach, wie sie den Ansatz noch besser vermitteln könnten. Einige haben berichtet, dass Führungskräfte gerne zu den Mitarbeitern sagen, „wenn einer von Euch sowas braucht, dann gerne. Ich brauche das natürlich nicht“. Das ist die falsche Botschaft. Jede Führungskraft sollte das zumindest mal probieren, um aus persönlicher Erfahrung berichten zu können. 

personalmagazin: Sie haben jetzt auch selbst eine Lernbegleitung?

Holsboer: Ja genau. Ich hatte zunächst probeweise eine Lernbegleitungsstunde. Das war mit einer Mitarbeiterin von uns, die mich wirklich angezündet hat. Deshalb bin ich dabeigeblieben. Wir treffen uns alle sechs Wochen für eine Stunde. Ich habe mir ein freies Lernziel gesetzt, das vertraulich ist, also nur zwischen meiner Lernbegleiterin und mir. Absolute Vertraulichkeit ist das A und O und auch die Chemie muss stimmen. 


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personalmagazin: Hat Sie auch jemand gefragt, warum Sie das nötig haben?

Das hat sich keiner getraut zu fragen, aber vielleicht gedacht. Mir ist die Botschaft wichtig: Niemand ist perfekt und hat ausgelernt, auch nicht ganz oben im Top-Management. Wenn wir über die Zukunft der Arbeit sprechen, geht es immer auch um eine neue Art der Führung – weg von autoritärer Führung hin zu einer stärkeren Mitarbeiterorientierung. Dazu gehört, dass wir keine Helden feiern. Vertrauen ist wichtiger als das Kommando des Chefs. Die Gefahr ist sonst, dass keiner sich traut, dem Vorstand zu sagen, was wirklich Sache ist. Das ist eine echte Kulturveränderung und für mich auch Risikomanagement.

Qualifizierung für die Digitalisierung: mehr als Software-Kenntnisse

personalmagazin: Es geht also Ihrer Meinung nach bei der Qualifizierung für die Digitalisierung mehr um eine neue Haltung als um konkrete Seminare, wie man die Software xy bedient?

Holsboer: Wie brauchen alles: Wir müssen lernen, mit den neuesten digitalen Werkzeugen umzugehen und neue methodische Kompetenzen in der Beratung aufzubauen. Aber mindestens genauso wichtig ist es, ein stärkeres Wirgefühl in der Organisation zu entwickeln. Früher waren viele Prozesse einfach hierarchiegetrieben: Meistens hat die Unternehmenszentrale sich etwas ausgedacht und die anderen mussten das top-down umsetzen. Wir haben ein sehr versäultes Denken. Das brechen wir jetzt langsam auf, indem wir bereichs- und hierarchieübergreifend neue Dinge anstoßen. 

personalmagazin: Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Wenn wir im HR-Bereich ein neues Qualifizierungsmonitoring entwickeln, das regelt, wer wo welche Schulung bekommt, dann sitzen von Beginn an die ITler mit den Personalern zusammen und konzipieren das gemeinsam in einem konstruktiven Schaffensprozess. Es gibt keine konkrete Ansage mehr, sondern ein Zielbild, wo sich alle fachübergreifend hin entwickeln sollen. Das ist nicht so leicht. Aber wenn es gelingt, hat das Neue eine ganz andere Verbindlichkeit, weil man es selbst mit geschaffen hat. 

Bundesagentur für Arbeit bricht Abteilungssilos auf

personalmagazin: Das klingt fast wie eine kleine Revolution: Eine Behörde, die Abteilungssilos aufbricht?

Holsboer: Ich spreche lieber von Evolution statt von Revolution. In unserer Strategie BA 2025 ist das Handlungsfeld „Führung und Kultur“ festgeschrieben – es geht um eine Organisationskultur, die wenig mit dem Organigramm und mehr mit der Haltung zu tun hat. Leider verstecken sich manche hinter Organisationsstrukturen oder spielen Bereiche gegeneinander aus. Wir haben innerhalb des Vorstands das ganz klare Commitment, dass wir ein Miteinander vorleben möchten und Kästchendenken nicht honorieren. Wir sprechen jetzt auch intern nicht mehr von „internen Kunden“. Unsere Kunden sind ausschließlich extern, die Arbeitslosen, Arbeitnehmer und Unternehmen, die mit ihren Bedarfen zu uns kommen. Denn wenn wir unsere Bereiche intern als Kunden verstehen, dann sind wir ja schon zufrieden, wenn es die Kollegen auch sind. Das reicht nicht mehr aus. Wir haben für die nächsten Jahre eine höhere Qualität auf der Agenda und das ist untrennbar mit Qualifizierung verbunden. Weiterbildung ist kein Luxus, den man sich einmal gönnt, wenn alles andere schon gemacht ist. 


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Das Interview ist in voller Länge in Personalmagazin, Ausgabe 04/2019, zu lesen.


Über Valerie Holsboer:

Im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit ist Valerie Holsboer seit April 2017 verantwortlich für Personal, Finanzen und Controlling; dazu gehört auch der Bereich der Arbeitsmarktstatistiken. Sie ist die erste Frau im Vorstand der Bundesagentur. Ihre Karriere startete sie früh: Mit 30 war die Juristin bereits Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands für Systemgastronomie, später auch der Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss.